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20 Psychische fctudien. XXXI. Jahrg. 1. Hrft. (Januar 1901.)
Die Erscheinung des „bleichen Mannes" auf
dem Seedampfer.
Ein okkultes Erlebniss von Henrik Ca\Iing\*)
Es war still geworden, todtenstiH. Melancholisch wölbte
sich der Himmel über dem Meere, das dalag ohne Woge,
ohne Dünung, träge und schwer wie geschmolzenes Blei.
Seltsam war es, aber jeder fühlte es, Unheil lag in
der Luft. Der Schornstein rauchte, die Maschine fauchte
und arbeitete und hinten an der Schraube schluchzte es,
während der Schiffskörper wie in Furcht erzitterte. Uns
aber schien es, als blieben wir auf der Stelle liegen.
Was konnte es sein? Während des Sturmes, da er
am gewaltigsten raste, wenn der Wind durch die Takelage
pfiff, die Wogen über das Deck peitschten und Mannschaftsräume
wie Kajüten mit Wasser füllten, gingen die Matrosen
mit Lust an die Arbeit. Ueberall höite man ihr lustiges
Hoi-Ahoi, und Lächehi lag auf den Gesichtein, selbst wenn
das Wasser ihnen von Haar und Bart troff.
Aber jetzt, da das Schiff gemächlich dahin glitt, jetzt
war es hier so wunderbar stille geworden. Der Kapitän
schloss sich ein, und bei Tisch war er geistesabwesend.
Auf der Kommandobrücke standen die Steuerleute, starrten
in die Luft, als erwarteten sie eine Erscheinung zu erblicken
, und vorn auf der Back, wo sonst die Matrosen in
ihrer Freizeit lärmten, sassen die müden Heizer um den
Bootsmann versammelt; aber die Worte kamen unsicher,
und das Feuer ging aus in den Kreidepfeifen, bis die Rede
ganz steckte, der Kreis sich auflöste und jeder für sich
umherschlenderte oder in seine Koje kroch.
Was war im Wege? Es war, als wäre ein dunkler
Schatten über das Schiff hingeglitten, hätte sich verkörpert
zu einer bösen Ahnung und schliche sich nun von Mann
zu Mann, von Raum zu Raum, in jede Kajüte.
Ueberall ging etwas schief. Wo man sich rührte und
wandte und ging und stand, geschah ein Unglück. Der
Zimmermann hackte sich in die Finger, der Koch hatte
sich die Hand verbrüht, dem Bootsmann war der Fuss im
*) Wir entnehmen diesen für Okkultisten besonders interessanten
Bericht dem Buch (1. Kapitel) des bekannten dänischen Schriftstellers
(Redakteurs der Zeitung „Politiken*), Hettrt/c Cavlmff „Dansk
Vestindien", welches auch in deutscher Uebersetzung von Dr. Bur-
meister in Norburg unter dem Titel: „Däuisch-Westindien41 (Verlag
von Wdhe'm Süs exdl in Berlin 1902, 162 8., ak II. Theil von „Kreuz
und quer durch's Leben/* berausg. von W. x\ Eaimekeii) erschienen
ist. — Red.
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