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Cavling: Die Erscheinung des „bleichen Mannes" etc. 21
Oangspill bis auf den Knochen geschält, der Mann am
Ruder bekam Reissen in den Gliedern und Schmerzen in
den Augen ... da war kein Mann an Bord, der sich wohl
fühlte, und alle waren in übler Stimmung.
Unter solchen Verhältnissen findet der Aberglaube, der
von Alters her unter dem Seevolk herrscht, gar fruchtbaren
Boden unter einer Schiffsbesatzung.*) Hier und dort in den
.Ecken flüsterte man sich Geschichten zu vom Manne, der
auf der Wache eingeschlafen war und wieder aufwachte
mit Vogelschnabel uud Krallen, vom Totenschiff, dem
fliegenden Holländer und von der Möwe mit dem weissen
Kinderangesicht, die nachts auf der Fockraae sass und auf
das Deck herabstarrte.
Und diese Geschichten, die sich unheimlich anhören
an Bord eines Schiffes, wurden nun von Mund zu Mund
geflüstert; sie verbreiteten eine unheimliche Stimmung von
dem Mannschaftsraum in die Kajüte, vom Maschinenraum
in die Kambüse, und dazu kam jetzt noch der Nebel, solch*
schneeweisser, feuchter Nebel, der über den Ocean treibt
und sich um's Schiff legt wie ein Leichentuch. Die Ausguckswachen
werden verdoppelt, das Heulen der Dampfpfeife
schrillt durch die tiefe Stille, jede Minute dasselbe
durchdringende schrille Heulen, während die Steuerleute
fluchend mit Kompass und Karte zu Rate gehen. Jeder
Seemann weiss, wie all' dieses im Verein auf die Phantasie
einer Schiffsbesatzung wirkt.
Es war klar, die Reise musste mit einem Unglück
enden, einem Todesfall oder einem andern schweren Ereignis
»; denn das Gerücht ging um, wurde geglaubt und
weckte Grausen, der Dampfer segle mit dem „bleichen
Mann*.
Zuerst hatte ein Matrose ihn oben auf der Schanze
gesehen, dann hatte ihn ein anderer auf Ausguck stehen
sehen. Dann spazierte er längs der Reling oder über das
Deck, wo der Schiffshund nachts stand und heulte. Näherte
man sich aber dem Gespenst, so wandte es sich und verschwand
in der weissen Luft.
Zuletzt wurde von nichts anderem gesprochen, als von
dem bleichen Mann, und man beschrieb ihn ganz genau.
Er trug Reiseanzug mit hohem, grauem Hut, langen hellen
Mantel, helle Hosen, Gamaschen, spitze Schuhe und um
den Hals das Reisefernrohr mit breitem schwarzem Band.
Sein Antlitz war bleich, und er hatte einen langen flachsblonden
Bart.
*) Vergleiche hierzu die im Okt.-Heft v. J. S. 632 ff. erzählten Erfahrungen
v. Sentens in seinem Artikel „Semannsaberglaube" — Red.
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