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24 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 1. Heit. (Januar 1904.)
IL Abtheilung*
Theoretisches und Kritisches.
Die Logik der materialistischen Lehre und ihre
Werthschätzung des Lebens.
Vom f kaiserl. russ. Geheimrath u. Generalarzt a. D.
Dr. Ufik. v. Seeland.
(Fortsetzung von Seite 750 v. J.)
Wenn schon die nach physischen Anstrengungen —
nach Handarbeit, Durst, Hunger etc. — folgende schwungvolle
Stimmung des Gemüths sich nicht unmittelbar in ihrer
ganzen Ausdehnung einstellt, sondern es dazu eines gewissen
Zeitraumes und einer gewissen Ergänzung bedarf,
so wird auch die durch sittliche Anstrengung und Selbst-
entäusserung eingeleitete innere Genugthuung oftmals unmittelbar
durch so viele entgegengesetzte unangenehme, ja
quälende Wahrnehmungen und Gefühle durchkreuzt und
getrübt, dass die Resultirende der Seelenstimmung,
welche ja aus so vielfachen Paktoren zusammengesetzt wird,
erst später, bisweilen nach langer Zeit zu jenem hehren
Gefühl des Seelenfriedens ansteigt, der die Tugend
krönt. Allerdings, je weiter und vielstimmiger in uns das
Reich der eigentlichen sittlichen Regungen sich ausbildet, desto
leichter gewinnen diese die Oberhand im Bewusstsein. desto
lauter übertönt der Klang der sittlichen Gefühle und der
ihnen folgenden Genugthuung das Widerwärtige des inneren
und äusseren Lebens; immer jedoch wird die Seelenstimmung
noch von vielen anderen Ursachen mitbedingt, ja bisweilen
ist es gerade die Zartheit und Kraft der sittlichen
Gefühle selber, die jenen Widerwärtigkeiten einen verschärften
Stachel leiht. Es wird z. B. ein edler, um die
Wahrheit und um seine Mitbürger verdienter Mann schon
durch den Verdacht einer unredlichen That unendlich stärker
gekränkt, als ein Schelm durch eine gesetzlich erfolgte Erklärung
seiner Ehrlosigkeit. Wird also jenem der Stachel
der Verleumdung ins Herz gedrückt —, wie lange muss es
da dauern, bis er die Bitterkeit der ihm zugefügten Bosheit
verschmerzt und wieder ins Gleichgewicht, geschweige in
einen Zustand freudiger Ruhe gelangt! Ist nicht schon
das verzweiflung3volle „Vater, Vater, warum hast du mich
verlassen!" eine weltbekannte Mahnung, wie himmelweit
wahre Seelengrösse und deren „natürlicher Lohn", der
innere Friede, wenigstens zeitweise auseinandergehen können,
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