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46 Psychische Studien. Jahig. XXXI. 1. Heft. (Januar 1904.)
ist. Nichtsdestoweniger ist es auch in dieser Frage der
modernen Forschung gelungen, durch gewissenhafte Beobachtung
eine Reihe von Thatsachen festzustellen, die über
die physiologischen und psychologischen Räthsel der Todesstunde
wenigstens einigermaassen Klarheit schaffen.
Dr. Näcke, dem auf diesem Gebiete eine besonders
reiche Erfahrung zu Gebote steht, veröffentlicht jetzt darüber
im „Archiv für Criminalantbropologie" eine Studie, in
der er zu dem Ergebniss gelangt, dass das Meiste, was
über diese Frage im Volksglauben fest begründet erscheint
, falsch ist. Er stellt fest, dass es bei den meisten
Sterbenden kurz vor dem Ende zu einer Bewusstseins-
trübung kommt, die sich in der Mehrzahl der Fälle als
Traumzustand ähnlich dem Schlafe, seltener als eine
Art Delirium mit Halluzinationen und Illusionen äussert,
wie es bei schweren Infektionskrankheiten unter dem Einflüsse
heftigen Fiebers so häufig beobachtet wird. Bei
diesen Halluzinationen spielen wahrscheinlich Jugenderinnerungen
eine Hauptrolle. Dabei ist zu berücksichtigen,
dass zwischen der Bewusstlosigkeit und dem echten Schlaf
nur ein Gradunterschied und ein solcher bezüglich der Entstehung
und des Ausganges vorhanden ist.
Prophetische Aeusserungen Sterbender yind ebenso wie
die so oft behauptete Gabe eines erhöhten Gedächtnisses
in das Reich der Fabeln zu verweisen (? — Red.); meist
sind es demSchwinden des Geistes entsprechend unbedeutende
und gleichgültige Worte, die dem Abschlüsse des Lebens
voraufgehen. Dass derartigen Aussprüchen, wenn sie von
hervorragenden Menschen gethan werden, ein gar nicht beabsichtigter
Sinn untergelegt wird, sehen wir übrigens
beispielsweise bei Goethe, dessen „Mehr Licht14 durchaus
im alltäglichen Sinne gemeint war und vielleicht auf den
Todesschatten zurückzuführen ist, der sich auf die Augen
des Dichterfürsten herabsenkte. Denn eines nach dem
andern versagen auch die Sinnesorgane ihren Dienst, bis
als die letzten der Tastsinn und das Gehör erloschen sind.
Geisteskranke zeigen in der Sterbestunde meist dieselben
oder wenigstens sehr ähnliche Erscheinungen wie
Geistesgesunde, und wenn auch zuweilen kleinere Aufhellungen
des Geistes beobachtet werden, so kehrt doch
bei völliger Verwirrtheit nur ganz vereinzelt der Intellekt
wieder, entgegen dem beliebten und volkstümlichen Trick
der Dichter, Irre kurz vor dem Tode plötzlich geistig wieder
gesunden zu lassen. Dass sich das Verscheiden auch in
den Gesichtszügen deutlich ausprägt, ist eine schon von
Ilippofcrates erkannte Thatsache; mit grosser Naturtreue
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