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Die Todesstunde im Lichte moderner Forschung.
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-schildert der Altmeister der Medizin die Veränderungen,
die sich dabei gerade an den mimischen Muskeln wahrnehmen
lassen und noch heute unter dem Ausdruck „hippo-
kratisches Gesicht" zusammengefasst werden; aber nur die
Schönfärberei liebender Verwandten und Freunde spricht
von einer Verklärung des Antlitzes Sterbender (? — Red.).
Eine eigentümliche, noch nicht aufgeklärte Erscheinung
ist es, dass der Tod am häufigsten in den frühen Morgenstunden
von 4 bis 7 Uhr eintritt; eine gewisse Parallele
darf man übrigens in der allbekannten Statistik erblicken,
nach der auch die grosse Mehrzahl der Geburten in die Nachtzeit
fällt. .Furcht vor dem Tode kennen Wilde und Kinder
nicht, auch bei ungebildeten Menschen ist sie meist wenig
ausgeprägt, während wir sie bei vielen Gebildeten als einen
Vorgang von sehr verwickelter Entstehung beobachten
können. Auch die Gewohnheit schwerverwundeter oder
erkrankter T h i e r e, einsame Stätten aufzusuchen, um dort
allein zu sterben, scheint darauf hinzudeuten, dass sie eine
mehr oder weniger deutliche Empfindung dessen haben,
was ihnen droht. Alle bis jetzt gewonnenen Erfahrungen
stimmen darin überein, dass der Tod selbst ein völlig
schmerzloser Vorgang ist, und das ist jedenfalls das
tröstlichste Ergebniss der wissenschaftlichen Forschungen
auf diesem Gebiete.
Hie Geheimnisse der Seele.*)
Ein psychologisches Bäthsel, das jeden auch nur noch
der geringsten Selbstbeobachtung fähigen Menschen schon
beunruhigt haben mag, ist die trügerische Vorstellung, dass
man Dinge und Menschen schon gesehen oder Ereignisse
schon erlebt hat, denen man zum ersten Mal begegnet.
Man glaubt eine Landschaft, in der man noch nie gewesen
ist, schon durchwandert zu haben, man liest ein neues Buch
und sagt sich: das habe ich schon gelesen, man begegnet
einem ünbekannten und ist bestürzt durch eine plötzliche
Erinnerung, als ob man schon einmal mit ihm geplaudert
hätte. So sagt Dickem durch den Mund seines David Copperfield
: „Wir kennen alle aus Erfahrung die Empfindung, dass
wir zuweilen im Begrift sind, Dinge zu thun oder zu sagen;
die schon früher vor langer Zeit gethan und gesagt worden
sind/' — Dieses Phänomen war schon den alten Völkern
*) Wir entlehnen auch diesen gut geschriebenen Artikel dem „N.
Wiener Journal* vom 3/9. 03 zum erfreulichen Beweis des sogar in
den dem okkultistischen Gebiet abholden Pressorganen zunehmenden
Interesses für die Probleme der modernen Expermentalpsychologie.
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