http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0061
Kurze Notizen.
53
Gehirn und Seelenleben. Viel häufiger werden die Seelen-
thätigkeiten und nicht nur die Gemüthsbewegungen in das
Herz verlegt. In den homerischen Epen wird als der
Sitz der Seele das Zwerchfell und das Herz, aber niemals
der Kopf, geschweige denn das Gehirn angesehen. Empe-
dokles führt die individuellen psychischen Eigentümlichkeiten
auf die ungleichartige Zusammensetzung des Blutes
zurück, andere griechische Philosophen sehen die Seele als
etwas Luftartiges an. Während der berühmte Hippokrates
die ausschliessliche Beziehung des Gehirns zur Seelenthätig-
keit betont und in seinem Buch über die Epilepsie gegen
die verkehrten Anschauungen der anderen Philosophen
eifert, behauptet Aristoteles, dass im Herzen das Denken
vor sich gehe und dass das Gehirn nur ein „Abkühlungsorgan
" sei. Er nimmt an, dass das Herz des Menschen
als Sitz der Seelenthätigkeit besonders heiss sei und dass
deshalb ein stärkeres Abkühlungsorgan nöthig sei. Trotzdem
man bald erkannte, dass das Herz mit dem Denken
nichts zu thun habe, so dachte man sich das Denken an
ein „ Seele npneuraa" geknüpft, welches, durch die
Lungen eiugeathinet, sich schliesslich in den Höhlen des
Gehirns ansammelt. Während Leibniz und Spinoza sich
nur wenig mit der Seelenthätigkeit beschäftigten, verlegt
Descartes diese in die Zirbeldrüse, einen kleinen, röthlich
grauen Körper im Innern des Gehirns. Sie misst höchstens
l1^ cm. Und in diesem kleinen Körper sollten die ver-
wickeltsten geistigen Punktionen vor sich gehen? Heute
wissen wir, dass die Zirbeldrüse mit dem Denken nichts
zu thun, vielmehr ein verkümmertes drittes Auge, ein sogenanntes
Scheitelauge darstellt. Kant sieht die Geisteskrankheiten
schon für Gehirnkrankheiten an, und der vielverketzerte
Gall erkennt als erster, dass die graue Hirnrinde
, die oberflächliche Schicht des Gehirns, die bis dahin
fast ganz unbeachtet geblieben, in engster Beziehung mit
allen seelischen Funktionen steht. Gall begründete die
Hirnphysiologie und die feinere Hirnanatomie. Nochmals
wurde diese Anschauung durch eine gelehrte Kommission
verurtheilt (!). Sie sah das Gehirn für ein
drüsiges Organ an. Dann aber bewies Flourens durch das
Kxperiment und Foville und Delaye durch Untersuchungen
am Krankenbett und durch Sektionsbefunde, dass Seelenthätigkeit
und Grosshirnrinde in enger Beziehung stehen.
Seitdem ist diese Thatsache wissenschaftlich unwiderleglich
festgelegt. A. Kniepf*)
*) Wegen Andrangs von nicht länger aufschiebbarem Stoff
kann dieses Referat erst jetzt zum Abdruck gelangen. — Red.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0061