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56 Psychische Stadien. XXXI. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1904.)
mich zeigend. Wir setzten uns. Die Wahrsagerin sieht mich
an. Dann heginnt sie: „Die da ist so wenig Fräulein wie
ich. Denn sie trägt unter dem Herzen seit drei Monaten
denjenigen, der ein st Frankreichbeherrschen wird."
Diese Worte machten mich erbeben und neugierig zugleich.
Bedenken Sie nur, ich war seit drei Monaten in gesegneten
Umständen! „Wie/* fragte ich die Wahrsagerin, „ich werde
die Mutter eines Mannes sein, der Prankreich regieren wird?"
— „Ja," erwiderte sie, „nach einem unglücklichen Kriege
und nach dem Umstürze eines Thrones. Sie und Ihre Schwester
werden sehr stolz auf ihn sein, Madame. Denn Sie besitzen
eine Schwester. Opfern Sie Beide Ihr Leben für ihn! Nur
durch Sie Beide kann er das werden, was er sein wird,
denn die Anderen aus ihrem Hause werden an seinen Stern
nicht glauben." „Ich kehrte nach Hause zurück", fuhr Frau
Gambeüa fort, „und vertraute die Wahrsagung nur meiner
Schwester an, die bei mir lebte. Seit jenem Tage sprachen
wir Beide von dem Kinde, dessen Geburt bevorstand, und
später von dem Knaben Leon nicht anders als von dem
„grossen Manne". Alle unsere Opfer, alle unsere Ersparnisse
wurden nur im Gedanken an seine Zukuntt vorbereitet
." . . Tn der väterlichen Spezereihandlung legten
Mutter und Tante einen „Zehent" für die künftigen Bedürfnisse
des kleinen Leon zur Seite; er diente später für
besondere Lektionen an Leon: Fechtunterricht, Reiten und
Schwimmen. Mama und „Tata", wie man die Tante hiess,
wollten, dass er alles lernen sollte, und letztere zog, trotz
des Widerspruchs seines Vaters, welcher wünschte, dass er
in Oahors bleibe und dort Advokat werde, mit ihm und der
treuen Dienstmagd Miette, die mit vierzehn Jahren in das
Haus getreten und Mitvertraute in der Sache des „grossen
Mannes" war, nach Paris. Erst als sein Sohn als Sekretär
bei dem Advokaten Lautier in Paris eintrat und man dem
Vater in Cahors erzählte, das Leon bereits einige Affairen
vor Gericht plaidirt habe, gab endlich der Alte seiner Frau
die Erlaubniss, den Sohn zu besuchen und ihm zu sagen,
,/lass er auf Ferien kommen dürfe". ITrau Gambeita kehrte
begeistert aus Paris zurück. Der künftige „grosse Mann"
gedieh prächtig. Kollegen ihres Sohnes hatten ihr in Paris
gesagt, dass er sie alle überragte, ja bereits „Parteigänger"
zähle. Ein grosser Richter hatte sogar erklärt, Gambeita
besitze einen sonoren Namen, eine sonore Stimme, eine
gross ausholende Geste, dass er die genuesische Schlauheit,
den lateinischen Esprit, die gute französische Laune besitze
und „dereinst die Welt beherrschen werde" . . • Zum ersten
Alale wagte jetzt Frau Gambctta ihrem Sohne von der Prophe-
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