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Dankmar: Geistige und soziale Strömungen etc. 71
In des Aesthetikers Professor Solger's „Nachgel. Schrift.u
I, 538 ff. findet sich ein Brief Ludwig Tieck's an ihn, worin
dieser jenem schrieb: erst seitdem er Jakob Böhme kenne,
habe er angefangen, das Christenthum zu begreifen. Schlegel
hält Böhme'8 theosophische Werke für das Grösste, was in
Eücksicht auf Sprache seit dem Untergange der mittelhochdeutschen
Dichtung hervorgebracht worden sei. Dass auch
Z. Werner zu den begeisterten Verehrern /. Böhmeh zählt,
versteht sich; Beweis dafür sein Brief an seinen Biographen
Hitzig vom 18. März 1801. (Abgedruckt in Hitzig*'s „Lebens-
abriss Z. Werner's", p. 23.)
Schleiermacher, ein feiner Dialektiker, war es gewesen,
der bereits in seinen Reden „Ueber die Religion* es angekündigt
hatte, dass die Zeit nicht mehr fern sei, die eine
neue Religion gebären werde; aus dem Christenthum
sollte diese entstehen. Schelling schloss (1802) die Einleitung
zur II. Aufl. der „Ideen zu einer Philosophie der
Natur" mit den Worten: „Nachdem alle endlichen
Formen zerschlagen sind und in der weiten Welt nicht
mehr ist, was die Menschen als gemeinschaftliche Anschauung
vereinigt, kann es nur die Anschauung der absoluten Identität
in der vollkommensten objektiven Totalität sein, die
sie aufs Neue und in der letzten Ausbildung zur Religion
auf ewig vereinigt.*4 Nicht der Intellekt und nicht der
Willen, das Gefühl wurde das primäre Element, auf das
man letzten Endes Alles reduzirte. Wie das J. J. Rousseau
im Glaubensbekenntnis seines savoyischen Vikars (Theil O,
147) im „Emile" zum glühenden Ausdrucke gebracht hatte,
so führten es die Romantiker, vor Allem aber die Gemüths-
philosophen Hamann und Jacobi in ihren Werken aus: im
Gefühle ist das Grundelement allen psychischen Geschehens
zu erblicken. Novalis behauptete nun geradezu, es gäbe noch
keine Religion, man müsse eine Bildungsschule echter
Religion erst stiften. Bald nahe sich die Zeit, wo die
Völker Europas, von „heiliger Musik getroffen", zu den
ehemaligen Altären treten werden, um Worte des Friedens
zu vernehmen. Nur die Religion kann Europa wieder auferwecken
und die Völker versöhnen. Was für eine Religion
meinte nun Novalis damit? Die Antwort darauf giebt uns der
Satz, den wir schon in Theil B (Buchausgabe S. 48) zitirt haben
und der aus dem Fragmente ÄDie Christenheit oder Europau
stammt *) Der Katholizismus ist es; diejenige Religion,
*) Im Julihe te der Ps. St. 1902, p. 410 findet sich durch Versehen
des Verfassers angegeben, dass dieser Satz aus Novalü9
Eoman „Oferdingen* sei. Das ist falsch! Er ist aus seinem Fragmente
„Die Christenheit oder Europa*, das Novalis 1799 schrieb und
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