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72 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 2. Heft. (Febnmr 1904.)
wo — wie es in dem Fragmente weiter heisst — „die Geistlichen
nichts als Liebe predigten zu der heiligen wunderschönen
Frau der Christenheit, die, mit göttlichen Kräften
versehen, jeden Gläubigen aus den schrecklichsten Gefahren
zu retten bereit war." Und wenn auch kein Neokatho-
lizismus begründet werden sollte, so waren doch die Ge-
miither aufgewühlt, bereit, den Samen eines Neuen zu
empfangen. Es sollte ihnen werden noch um die Mitte des
Jahrhunderts im Spiritismus, im Sozialismus und
späterhin in der Theosophie. —
Zu derselben Zeit, als alle diese — mit Ausnahme
Brentano^ — als Protestanten geborenen Romantiker dem
Katholizismus sich zuneigten und in politischer Hinsicht
der Reaktion die Wege ebneten, huldigte der „katholische
Luther" J. Jos. v. Görres noch nicht der politischen Reaktion
, wie denn dieser sein ganzes Leben lang, selbst in seiner
letzten Münchener Epoche, den Absolutismus gehasst hat.
Wir erwähnten schon (in Theil B) seine Kenntnis des
Persischen; er war es, der zuerst Firdusi übersetzte. Er
ist ein Sprachgewaltiger. Gentz vergleicht ihn mit
Jesaiasj Dante und Shakespeare. Den Beweis dafür, dass
dies nicht übertrieben ist, bildet z. B. seine (im „Rheinischen
Merkur" erschienene) „Proklamation Napoleon^ an die
Völker Europas vor seinem Abzug auf die Insel Elba/4
In Napoleons Maske ergeht sich Görres hier in einem vernichtenden
Urtheile über die Fürsten und Völker Deutschlands
, Italiens, Spaniens, Englands, Oesterreichs. Eine
göttliche Ironie durchlodert dieses Schriftstück.*) Die
Franzosen hielten diese Proklamation für echt und lobten
sie als das Beste, was ihr Kaiser geschrieben! Görres, der
grosse Franzosen!)asser, der sich aber später wegen seiner
Freisinnigkeit vor den Schergen des preussischen Staatskanzlers
auf französisches Gebiet (nach Strassburg) flüchten
musste, ist stets voll von echtem deutschem Patriotismus.
Er fordert die Rückgabe Elsass-Lothringens und die Errichtung
eines deutschen Kaiserreichs; Stein arbeitet an
seiner Zeitung mit und Gneisenau ist ihm befreundet. Er
will nicht „jene alte Musterkarte aller Lappalien und Erdas
sich vollständig bloss in der Ausgabe von 1826, welche
Fr. v. Schlegel besorgte, vorfindet. In der Ausgabe, welche später
L. Tieck besorgte, fehlt es und auch in einigen anderen findet es
sieh nur unvollständig vor. (In der erweiterten Buchausgabe,
in welcher diese Arbeit erscheinen soll, wird dieses wie einige
andere Versehen behoben sein.)
*) Der Leser findet es abgedruckt in der vortrefflichen, hier
benutzten Biographie Görres* von Professor /. N. Sepp: »Görres*
(Berlin 1896), p. 77 ff.
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