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92 Psychische Studien. Jahrg. XXXI. 2. Heft. (Februar 1904.)
Es hat wohl immer Menschen gegeben, deren Unter-
bewusstsein mit seinen Fähigkeiten spontan hervortrat
und die für Momente bewusst beide Arten der Wahrnehmung
hatten, d. h. übersinnlich schauten und sinnlich
beobachteten.*)
Einige Wochen darauf erlebte ich Folgendes:
Ich war eben ins Bett gegangen und hatte das Licht
gelöscht. Ich betete: ernst und ruhig? sehr konzentrirt in
meinen Gedanken, aber ohne jede Ekstase.**) Ich erinnere
mich, dass ich nur um Dinge betete, die auf die Seele Bezug
haben, und mich wunderte, dass für die ungewöhnlich leicht
sich einstellenden Gedanken ich auch ungewöhnlich leicht
die passenden Worte im Geiste fand. Kaum hatte ich mein
kurzes Gebet beendet, da sah ich durch die halb geöffneten
Läden, dass von der Stubendecke über meinem Bette eine
leuchtende Flüssigkeit in leichtem Bogen herabfloss.
Es war ein schmaler Strahl, wie wenn er aus einer schmal-
halsigen Kanne gegossen würde. Ich sah aber weder eine
Hand, noch ein Gefäss.***) Die Flüssigkeit fiel mit leichtem,
aber deutlich fühlbarem Aufschlagen auf meine Brust, —
viel schwächer, als wenn ein Wasserstrahl von gleicher Dicke
aufgefallen wäre —, sprang in Kügelchen verschiedener
Grösse von den gestreiften Falten meiner Nachtwäsche ab,
fiel zum zweiten Mal nieder, durchdrang die Wäsche und
drang in meine Brust, bezw. Herzgrube ein, ein Gefühl
unbeschreiblichen Glücks und Friedens darin erzeugend;
mein ßewusstsein schwand und tags darauf erwachte ich
gesund und vollkommen frisch. —
*) Diese von der Verfasserin selbst gegebene Erklärung dürfte
wohl die wissenschaftlich haltbarste sein. — Red.
**) Dieses Mal war die Magd nicht im Zimmer, wie uns Frau
R aui eine diesbezügliche Anfrage mittheilte. — Red.
***) Auch bei dieser Vision dürfte vielleicht eine latente Erinnerung
an ein ähnliches Gemälde, bezw. an irgend eine Heiligen) egende,
wie sie von den Malern der Renaissance mit Vorliebe dargestellt
wurden, vorliegen. Die von Zeus als Goldregen heimgesuchte
Danae, wie die vom heiligen Geist aus den Wolken herab befruchtete
Gottesmutter (Mariä Empfängniss) findet man in verschiedenen
Galerien in analoger Situation abgebildet. — Red.
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