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v. Seeland: Die Logik der materialistischen Lehre etc. 103
Aussicht stehende Gut. Wird da wohl selbst ein willensstarker
Greis einwilligen? Schwerlich. So kommen auch
nicht selten Fälle vor, wo ein Kranker durch eine Operation
zwar von seinem üebel befreit werden kann, die Gefahr
derselben aber so gross ist, dass er es vorzieht, sich ihr gar
nicht mehr zu unterwerfen.
Nun aber handle es sich um ein sittliches Uebel,
z. B. um eine schlechte Gewohnheit, und zwar bei einem
alten Menschen, der fest an die Unsterblichkeit der Seele
und an eine Fortdauer des Selbstläuterungsprozesses im
künftigen Leben glaubt, • mithin der Zuversicht ist, dass,
wenn es ihm in diesem Leben auch noch nicht gelingen
sollte, durch eine lange Reihe von Entsagungen und Prüfungen
*) von seinem Uebel loszukommen, er doch die Aussicht
hat, dass seine in diesem Leben gemachten Anstrengungen
nicht verloren gehen, sondern nur das Fundament des Gebäudes
hergeben, dessen Dach in einem künftigen Leben
aufgeführt werden soll. Ist hier nicht die Wahrscheinlichkeit
grösser als im ersten Fall, dass sich ein solcher Mensch
zusammennehmen und an seiner Besserung zu arbeiten beginnen
wird?
Es kann nicht bestritten werden, dass die Zunahme
der sittlichen Kräfte eines Individuums durch gute Beispiele
und Mahnungen von Seiten der Umgebung gefördert wird.
Von zwei in sittlicher Hinsicht annähernd gleich angelegten
Menschen wird derjenige — namentlich wenn es
sich um noch junge, für Eindrücke empfindlichere Personen
handelt — eher vorrücken, welcher zugleich in eine moralisch
gut disponirte Umgebung versetzt wird und jederzeit
gewärtig ist, dass ein Abweichen vom geraden Wege sofort
bemerkt und missbilligt werden wird. Sittliche Handlungen
müssen ihm also schon, dank diesen Einflüssen, mehr und
mehr zur Gewohnheit werden: jemehr Einem aber das
sittliche Handeln zur inneren Gewohnheit wird, desto eher
ist man berechtigt, von wirklich sittlichem Fortschritt zu
reden. Und wenn nun ein Mensch — wenigstens ein besonnener
und erblich nicht belasteter — an ein unsichtbares
und das Gute wollendes, höchstes Wesen glaubt, welches
alle seine Schritte noch klarer als die ihn umgebenden
*) Ich erinnere hier wieder an das Beispiel der Trunksucht.
Ein noch nicht ganz verkommener und dabei glaubensstarker Trinker
wird sich selbst im Alter sicherlich leichter bereden lassen, in eine
Heilanstalt einzutreten, als einer, dem, kraft seiner negativistischen
Ueberzeugung, nur das baldige Grab entgegengähnt, and der es
daher vorziehen wird, während der kurzen Zeit, die ihm noch gegönnt
ist, in seinem gewohnten Sinnenkitzel fortzufahren, als sich
den Entsagungen einer Trinkerheilstätte zu unterwerfen.
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