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104 Psychische Studien. XXXI. J*hrg. 2. Heft. (Februar 1904.)
Menschen sieht und seine Absichten durchschaut, so wird
diese Ueberzeugung seiner sittlichen Gewohnheit nur förderlich
sein müssen. Es handelt sich hier nicht um Beweise
des Daseins eines solchen Wesens, wohl aber um den
Schluss, dass der vorhandene Glaube an dessen Dasein
die Sittlichkeit zum wenigsten ebenso fördert, wie das Be-
wusstsein, von guten, sittlichen Menschen kontrollirt zu
werden, was die Gegner der Religion übersehen zu wollen
scheinen. —
Wie könnte wohl ferner die Vera ein angsdoktrin, im
Falle unwiderbringlich entrissener theurer Personen der Erhaltung
, geschweige dem Anwachsen der sittlichen Kräfte
förderlich sein? Gehört der verwaiste Verneiner dem nie
vergessenden, also höheren Menschentypus an, so kann ein
Schmerz nur deprimirend auf sein ganzes Gebahren zurückwirken
. Man muss einen sittlich und zärtlich angelegten
Freidenker, dem das Heissgeliebte plötzlich von der Seite
gerissen ward, beobachtet haben, um zu begreifen, um wie
Vieles grösser sein Schmerz, im Vergleich zu dem des
Hoffenden ist, wie oft er der Verzweiflung nahe steht, wie
leicht er unter solchen Umständen in Versuchung kommt,
sich die getrübte Psyche durch betäubende Erheiterungsmittel
, wie den übermässigen Genuss von Tabak, Spirituosen
und dergl. zu beleben, ja gelegentlich zum Morphium zu
greifen. Wie wenig ist dann aber ein solcher Zustand des
Leibes und der Seele dazu angethan, ihm seine frühere
Leistungsfähigkeit zurückzugeben, geschweige ihn zu einem
gesunden Ringen nach sittlicher Vervollkommnung anzuspornen
, während bei gläubigen Verwaisten die gegentheilige
Wirkung eintreten kann, indem sie, anstatt zu Boden geschlagen
zu werden, gerade durch den von Hoffnungstrahlen
durchsetzten Kummer einen Anstoss zum Insicheinkehren
zu empfangen pflegen. Und wenn in unserem von Verneinungstheorien
bestürmten Zeitalter der Selbstmord in
stetiger Zunahme begriffen ist, so wirken sicherlich auch
die eben erwähnten Zustände dabei mit*); jedenfalls ist
schon besagte Zunahme im Allgemeinen nicht dazu angethan
, die Verneinung im Sinne der sittlichen Kraft in glänzendem
Lichte zu zeigen. Selbst wenn es der Verlassene dank
*) Sogar wenn diese Ursache nicht" unter denen der Selbstentleibung
im gangbaren Sinn vorkommen sollte, so kann mitunter die
unwillkührliche Erschlaffung und Selbstverwahrlosung nebst unmässi-
gem Rauchen, Theetrinken und dergl. nach dem für unwiederbringlich
gehaltenen Verlust theurer Angehöriger solche Verlassenen in
einen Zustand bringen, der dem eines chronischen und langsamen
Selbstmords ziemlich nahe steht.
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