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Reuss: Genialität und Verrücktheit.
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in die höchsten Regionen vollkommenster Geistesfreiheit,
zur religiösen und künstlerischen Ekstase, zur tiefsten mystischen
Einsicht in das Wesen der Weltseele, in ihr verborgenes
ewiges Walten,
Diese Auffassung des Genius (wie des Wahnsinnigen)
als eines medialen Wesens, welches geistig bereits mit
höheren Sphären in Verbindung steht, bestätigt uns eine Reihe
von Aussagen, die ich aus Lombroso's Werk herausgreife.
In der historischen Einleitung seiner Bücher zitirt er eine
Aeusserung Plato's über den fraglichen Punkt, aus dessen
Phaedrus: „Der Irrsinn ist durchaus kein Uebel, sondern
eine der höchsten Wohlthaten, wenn er eine Gabe der guten
Geister ist." Dass ferner Sokrates wie Christus überzeugt
waren, mit Wesen einer andern Welt in geistigem Verkehr
zu stehen, bedarf gewiss nur dieses kurzen Hinweises.
Greifen wir jedoch einige Beispiele aus jüngerer Vergangenheit
heraus: „Der Komponist Haydn betrachtete seine
berühmteste Komposition „Die Schöpfung" als den Einfluss
einer geheimnissvoll ihm zu Theil gewordenen Gnade."
„Napoleon versicherte wiederholt, das Geschick der
Schlachten hänge, weit mehr noch als von fleissig ausgearbeitetem
Schlachtplan, oft ab von einem Augenblick,
von einem verborgenen Gedanken, der plötzlich aufblitze und
dessen Ausführung den schwankenden Kampf entscheide.«
„Goethe pflegte nicht selten zu bekennen, dass er vieles
gedichtet habe, während er sich in einem dem Somnambulismus
vergleichbaren Zustand befand."
Und in der That: sowohl Goethe's intuitive Skizzirung
Italiens in seiner „Mignon", wie Schillers wunderbar lebenswahre
Wiedergabe der schweizer Szenerie im „Teil" —
beide Länder von den Dichtern nie zuvor gesehen und dennoch
aufs Treffendste in ihrer Eigenart erfasst und gezeichnet
—: das grenzt wirklich nahezu an Erzeugnisse hellseherischer
Zustände.
»Klopstock gestand wiederholt, dass ihm viele Gedanken
zu seinem „Messias'4 im Traum kamen."
„Newton und Cardano lösten im Traume verschiedene
mathematische Prägen."
Wie Mozart* Figaro entstand, während nämlich der Komponist
in einem Pariser Hotel bei Tische wachend träumte,
regelrecht geistesabwesend war und alle Gerichte vorübergehen
Hess, beim Portgehen aber bezahlte in dem Glauben y
er habe wirklich dinirt: das ist wohl allgemein bekannt.
„Hoöbes, der Materialist, konnte nicht in der Dunkelheit
verweilen, ohne dass er Gestalten von Verstorbenen an sich
vorüberziehen sah."
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