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KlinokowTroern: Ein bemerkenswerther Fall eingebildeter Hexerei. 115
Alle gute Begegnungen und Vorstellungen vermogten
es nicht, die Zauberin dabin zu bringen, die verordnete
Medicin einzunehmen, und durch Gewalt gelang es nur etwa
zweimahl. Sie blieb dabey, dass sie sehr gesund sey, und
der Teufel durch keine Medicin von ihr weichen werde.
Sie habe das Feuer verdient, bitte aber, dass man sie mit
dem Schwerte richten möge, da sie ihre Zaubereyen so gutwillig
eingestehe. Man werde sehen, wie gut es in der Welt
seyn werde, wenn sie tod sey. Wie man gegen diesen bösen
Feind mit Gewalt nichts ausrichten konnte, wurde beschlossen,
ihn mit List zu fangen.
Der Zauberin, welche in verschiedenen Tagen nicht
das geringste gemessen wollte, wurde an einem Abend, da
es bereits finster war, gesagt, der Scharfrichter sey da, um
ihren Hals zu besehen, ob derselbe mit einem ordinairen
Schwerte durchgehauen werden könne. Auf diese Nachricht
sprang die sehr schwach gewordene Person freudig von
ihrem Lager auf, bat die ihr zugegebene Wache, für sie zu
beten, da sie selbst nicht beten dürfte, setzte sich auf ihre
Knie, rief aus: „Nun sollt ihr sehen, wie gut es in der Welt
werden wird, wenn ich iod bin," und hielt ihren Hals ruhig
dem Arzt hin, den sie für den Scharfrichter hielt. Dieser
erklärte, dass der Hals durch das viele Zaubern so hart
wie Stahl geworden, und es unmöglich sei, mit dem Schwerte
durch solchen zu kommen; derselbe müsse nothwendig vorher
durch einige Mittel erweicht werden. „Ach!" sagte sie,
„geben Sie mir nur etwas, damit der Hals bald weich wird,
und ich von der Qual bald abkomme; dann wird es recht
gut in der Welt werden." Von dieser Zeit an nahm diese
Person alle Arzney willig ein, befühlte noch etwa vierzehn
Tage ihren Hals sehr fleissig, bekam nach und nach einen
ruhigen Schlaf, wurde zu massiger Leibesbewegung angehalten
, und vergass endlich, bey fortgesetztem Gebrauche
der Arzney-Mittel, die Zauberei und den stählernen Hals
so, dass ihr solches alles nur wie ein Traum vorkam, und
sie ihren Anverwandten wieder überlassen werden konnte.
Seit zwey Jahren ist sie fleissig, und bey dem Gebrauche
der von Zeit zu Zeit verordneten Mittel ziemlich wohl.
Was würde aber aus ihr geworden seyn, wenn sie vor
hundert Jahren, oder zu Glarus gelebt hätte? Gegen das
corpus delicti und ihr wiederholtes Eingeständnis würde
dort kein Defensor etwas zu sagen gehabt haben.
Nachschrift des Einsenders. Das ist ein markantes
Beispiel für eine Erklärung des mittelalterlichen
Hexenwesens, welche in vielen Fällen am Platze gewesen
sein mag: bei einer „Hexe" die bezügliche Zwangsvorstellung,
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