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Seiimg: Dritter Nachtrag zu „Goethe und der Okkultismus". 139
Ferner berichtet der mit den beiden Dichterfürsten auf
sehr vertrautem Fuss gestandene Heinrich Voss am 12. August
J806 an Christian Niemeyer: „Am Morgen des letzten Neujahrstages
, den Schiller erlebte, schreibt Goethe ihm ein
Gratulationsbillet. Als er es aber durchliest, findet er, dass
er darin unwillkürlich geschrieben hatte: „der letzte Neu-
jahrstaga statt „erneute" oder „wiedergekehrte11 oder dergleichen
. Voll Schrecken zerreisst er es und beginnt ein
neues. Als er an die ominöse Stelle kommt, kann er sich
wiederum nur mit Mühe zurückhalten, etwas vom „letzten"
Neujahrstage zu Scheiben. So drängte ihn die Ahnung! —
Denselben Tajj besucht er die Frau von Stein, erzählt ihr,
was ihm begegnet sei und äussert, es ahne ihm, dass entweder
er oder Schilkr in diesem Jahre scheiden werde.'4
Möglicherweise hatte Goethe auch ein Erlebniss (auf der
Gerbermühle bei Frankfurt) im Auge, als er am 18. Nov.
1816 an die Ehegatten v. Willemer schrieb: „Möge es Ihnen
allen Wohlergehen, wie ich denn hoffe, dass Sie nicht erschrecken
sollen, wenn es in tiefer Nachtzeit am ernsthaften
Thore zuweilen poltert und klingelt. Möchte das Gespensterwesen
doch einmal in Wirklichkeit ausarten."
Endlich finde ich beachtenswert, was Goethe im November
1782 an Knebel geschrieben: „Wie ich mir in meinem väterlichen
Hause nicht einfallen Hess, die Erscheinungen der
Geister und die juristische Praxis zu verbinden, ebenso
getrennt lass' ich jetzt den Geheimderath und mein anderes
selbst." Was hier unter „Erscheinungen der Geister" wohl
verstanden sein mag? Der Umstand, dass die Selbstbiographie
keinen Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser
Frage enthält, schliesst nicht aus, dass es sich um besondere
Erlebnisse gehandelt haben könnte; denn in gewisser Hinsicht
war Goethe ein schweigsamer Charakter. —
Was Goethe's. Aeusserungen über okkulte Dinge
anlangt, so möchte ich zunächst auf den am Schlüsse meines
zweiten Nachtrages erwähnten Ausspruch mit dem Bemerken
zurückkommen, dass die Quelle sich inzwischen gefunden
hat, dass aber die originale Fassung etwas anders lautet.
In „Sprüche in Prosa" („Ueber Naturwissenschaft", I) steht:
„Unsere Zustände schreiben wir bald Gott, bald dem Teufel
zu, und fehlen ein- wie das anderemal: in uns selbst liegt
das Räthsel, die wir Ausgeburt zweier Welten sind," —
während in der „Sphinx" zitirt ist: „ . . . die wir zweien
Welten angehören." Wäre die Stelle in dieser Form
allerdings ein unzweideutiger Beleg für die Auffassung des
Menschen als eines Doppelwesens im Sinne du Prel's, so
ist der originale Wortlaut vielleicht eher moralisch zu ver-
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