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Seiliug: Dritter Nachtrag zu „Goethe und der Okkultismus". 143
Linien, wie es der Begleiter nur erwarten konnte; ja über
alle seine Erwartung, Der Lord selbst stutzte einiger-
maassen, aber der andere konnte vor Lust und Begierde
gar nicht enden und bat immer um Wiederholung und Ver-
mannichfaltigung der Versuche. Ottilie war gefällig genug,
sich in sein Verlangen zu finden, bis sie ihn zuletzt freundlich
ersuchte, er möge sie entlassen, weil ihr Kopfweh sich
wieder einstelle. Er darüber verwundert, ja entzückt, versicherte
ihr mit Enthusiasmus, dass er sie von diesem Uebel
völlig heilen wolle, wenn sie sich seiner Kurart anvertraue.
Man war einen Augenblick ungewiss; Charlotte aber, die
geschwind begriff, wovon die Rede sei, lehnte den wohlgesinnten
Antrag ab, weil sie nicht gemeint war, in ihrer
Umgebung etwas zuzulassen, wovor sie immerfort eine starke
Apprehension*) gefühlt hatte."
Im Lord tritt uns der typische hartgesottene Skeptiker
entgegen. Selbst als der Versuch zweifellos gelingt, stutzt
er eben nur einigermaassen f um der Thatsache hinterher
vermuthlich wieder ins Gesicht zu schlagen. Vor der
Beschreibung des Versuches findet sich nämlich die folgende,
auch sonst ganz bemerkenswerthe Stelle: „Es konnte niemals
fehlen, wenn die Sache zur Sprache kam, dass der
Lord nicht seine Gründe dagegen abermals wiederholte,
welche der Begleiter bescheiden und geduldig aufnahm,
aber doch zuletzt bei seiner Meinung, bei seinen Wünschen
verharrte. Auch gab er wiederholt zu erkennen, dass man
deswegen, weil solche Versuche nicht jedermann gelängen,
die Sache nicht aufgeben, ja vielmehr nur desto ernsthafter
und gründlicher untersuchen müsste: da sich gewiss noch
manche Bezüge und Verwandtschaften unorganischer Wesen
unter einander, organischer gegen sie und abermals unter
einander, offenbaren würden, die uns gegenwärtig verborgen
seien." Ein anderer, an unvernünftige Skeptiker adressirter
Ausspruch kommt vor in „Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen
" („Das Sehen in subjektiver Hinsicht"): „Nicht
ein Jeder hat nöthig, diese Versuche persönlich zu wiederholen
, wie sich der wunderliche Wahn gerade im Physischen
eingeschlichen hat, dass man alles mit eigenen Augen sehen
müsse, wobei man nicht bedenkt, dass man die Gegenstände
auch mit eigenen Vorurtheilen sieht" Hat Goethe hier
freilich nicht wohl an okkultistische Experimente denken
können, so ist der Satz doch allgemein genug gehalten, um
auch für diese zu gelten.
*) Das französische Wort „apprehension" bedeutet (ausser Ergreifen
, Begreifen, Verständniss) auch Besorgniss. — Eed.
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