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v. Seeland: Die Logik der materialistischen Lehre etc. 155
einstimmung gebracht werden, die Moral des Menschen
selber dabei Schaden nehmen muss; nur irrt er darin, dass
er diese Wirkung nur für die Massen annimmt. Wenn
auch einige Wenige dabei noch charakterstark zu bleiben
vermögen, nur an ihrem besseren Selbst festzuhalten, so
beweist das noch nicht, dass sich nicht auch in ihrem
Denken und Wirken ein lähmender, hemmender Einfluss
bemerkbar macht. Der Unterschied besteht nur in dem
Grade. Wie sich ein Mensch von vortrefflicher leiblicher
Gesundheit in einer gesundheitswidrigen Umgebung länger
als der Durchschnittsmensch oder gar der physisch Schwache
anscheinend ungefährdet erhalten, schliesslich aber doch
auch gesundheitlich geschädigt werden und an Kraft abnehmen
muss, so geht es auch dem moralisch Starken beim
Ansturm zersetzender Doktrinen.
Und umgekehrt waren alle wirkliche Sittlichkeitshelden,
alle „Heilige", alle edle Menschlichkeitskämpfer, alle wirklich
grosse Geister stark im Glauben an einen endlichen
Sieg des Guten, ein Glaube, der mit der Verneinungstheorie
, wie wir bereits sahen, absolut unvereinbar ist.
Auch ein Verneiner kann ja einen recht grossen, angeborenen
oder auch theilweise durch Prüfungen selbsterworbenen
Grundstock von sittlichen Kräften besitzen, bei jenen aber
kommt dazu die Kraft des Ideals, welche die wankenden
Kräfte im Lebenskampfe immer von neuem stählt; mithin
muss das Gesammtfazit ihres Strebens grösser als bei den
Verneinern ausfallen, was uns auch die Weltgeschichte
empirisch zeigt. Es hat sogar unter Verneinern, natürlich
solchen, die von Natur hochsittlich angelegt waren, von
jeher einige gegeben, die ihr Leben für ihr Ideal hingaben.
Aber abgesehen davon, dass sie letzteres nur vermöge einer
offenbaren Selbsttäuschung für ein wirkliches Ideal hielten
— da es ja immer nur auf einen partiellen und dabei nicht
endgültigen Sieg des Guten eingerichtet war —, ist die Einsetzung
des Lebens, wie schon oben angedeutet wurde, noch
nicht der höchste Beleg sittlicher Stärke. Ein ganzes
bitteres, von unaufhörlichen Entsagungen, Prüfungen, Verfolgungen
, Gefahren etc. durchsetztes Leben im Dienste des
Ideals auf sich laden und dabei den Sieg des Guten durch
Lehre und Thaten anbahnen, ist noch schwerer, als ein einmaliger
heldenmüthiger Opfertod, obzwar natürlich auch
seine Möglichkeit dabei mit in die Rechnung genommen
wird; und gerade in solchen Thaten waren die wahren
Heiligen und die alten Missionare gross und sie werden
darin auch von den selbstlosesten Verneinern nicht halbwegs
erreicht, abgesehen davon, dass die Zahl der Letzteren
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