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v. Seeland: Die Logik der materialistischen Lehre ete. 159
energische Thätigkeit, ja ein sich Ueberstürzen in ihrem
Beginnen zu Tage legen. Denn ein Mensch, der das Ganze
seiner Hoffnungen und Bestrebungen in das augenblickliche
Leben verlegt, wird dabei gar leicht ungeduldig gegenüber
persönlichen Unfällen und gesellschaftlichen UnVollkommenheiten
, die er sofort abgeschafft wünschte; unvermerkt ge-
räth er dabei in eine gereizte Stimmung gegen Alles, was
seinen Desideraten entgegensteht, und die Vorschläge zur
Abhilfe schlagen leicht in eine gewisse Willkührlichkeit um.
Kein Wunder denn, dass solche Parteiführer nicht blos von
Reform, sondern öfters auch von Umsturz reden. Und so
können selbst Menschen, die von Natur die besten sittlichen
Anlagen hegen, sobald sie in das Getriebe einer solchen Augenblickspartei
gerathen, gar leicht leidenschaftlich, unbillig,
wo nicht gar gewaltthätig werden, worunter dann ihre
Moral mehr oder weniger Noth leidet.
Nun ist zwar genugsam bekannt, dass inmitten der
Gläubigen gar oft ganz Aehnliches beobachtet wurde, ja
die grössten Scheusslichkeiten im Namen der Religion verübt
wurden. Dennoch besteht hier folgender radikaler
Unterschied: was z. B. „christliche" Eiferer und Wüthriche
als GJaubensfanatiker hervorbrachten, war nicht nach der,
sondern gegen die erhabene Lehre, zu der sie sich nur
äusserlich, ohne ihren Geist erfasst zu haben, bekannten,
indes jene hässlichen Züge, denen wir oft bei den Umstürzlern
begegnen, wenigstens theilweise direkt aus der Theorie
selbst fliessen, in dem Sinne nämlich, dass hier die Logik
eines Abwartens und Aufschiebens von vornherein ausgeschlossen
ist, was stets die Gefahr der Ungeduld, der
Ueberstürzung, der Unduldsamkeit, der Unbilligkeit und
der Gewaltthätigkeit im Gefolge hat und augenscheinlich
nicht dazu angethan ist, der Moral sonderlich zu dienen.
Wohl zielt so Manches, was z. B. von den Sozialdemokraten
augestrebt wird, wie die Gleichstellung der Frau mit dem
Manne, eine gerechte Vertheilung des Gewinnanteiles als
Lohn, die Vermeidung der Völkerkriege u. s. w,, unleugbar
auf Zustände höherer Sittlichkeit, als die augenblicklich
bestehenden hin; allein es wäre eine grosse Selbsttäuschung
von Seiten der sozialistischen Freigeister, zu glauben, dass
die Forderung der Gerechtigkeit den sogenannten bürgerlichen
Jüngern des Idealismus, den „Ideologena, nicht
ebenso warm am Herzen liege.
Nichts ist klarer, als dass selbst Missbräuche, deren
Ursprung in konfessionellen Spitzfindigkeiten und geistlosem
Buchstabcnglauben zu suchen ist (wie z. B. die von katholischer
Seite gelehrte Unlösbarkeit der Ehe) nicht nach.
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