http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0168
160 Psychische Stadien. XXXI. Jahrg. 3. Heft. (März 1904.)
sondern nur gegen den reinen Geist der Religion aufkommen
konnten, deren Stifter das herrliche Wort prägte:
„Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.*
Auch eine andere, zwar nicht theoretische, doch unwill-
kührlich in der Praxis sich geltend machende Abweichung von
der höheren Moral liefern uns die Jünger der Verneinung.
Bekanntlich ist die heutige sogen, realistische, bezw. naturalistische
, in Wahrheit aber der gröbsten Sinnlichkeit fröhnende
Dekadenten - Litteratur und -Kunst das rechtmässige Kind
eben jener Geistesrichtung, die jeglichem Glauben an eine
höhere Bestimmung des Menschen den Rücken kehrte, worauf
wir noch weiter, in dem Abschnitt über die Kunst,
zurückkommen werden. Hier möge nur noch ein Ausspruch
von Anselm Feuerbach (dem kunstverständigen älteren Bruder
des Verneiners Ludwig, der das „Wesen der Religion" in
Anthropomorphi8mus auflöste) Platz finden. Derselbe sagt :
„Religion, in welcher Form sie auftritt, bleibt das
ideale ßedürfniss der Menschheit. Deshalb ihre
unauflösliche Verwandtschaft mit der Kunst." Aber noch
ein Widerspruch der materialistischen Moral mag gleich
hier seinen Platz finden. Einerseits können die Materia*
listen nicht genug auf die Verwandtschaft der menschlichen
Seele und Natur mit derjenigen der höheren Thiere hinweisen
, was ja auch unzweifelhaft richtig ist. Andrerseits
aber verhöhnen sie (so K. Vogt} Dühring, Bebel u. A.) die
n Ueberempfindsamkeit" der Gegner der Vivisektion
und der Vegetarier, die sich sträuben, Fleisch und Blut
ihrer „nächsten Verwandten*1 zu verschlingen. Ist vielleicht
diese Moral eine feinere und konsequentere, als die des
Buddhisten, des Urchristen, des modernen Vegetariers?*)
Alles zusammengenommen — und man könnte noch so
manches andere Beispiel hinzufügen — steht eine nur mit
dem Diesseits rechnende und sich selbst überlassene Moral
*) Vom Standpunkt der du /Vifschen Seelenlehre, die ein
„transszendentales Subjekt*4 des Individuums leint, muss angenommen
werden, dass das menschliche „Ich* als letzter (seelischer) Lebewesenkeim
oder transszendentaler Kern der sich kontinuirlich
fortentwickelnden und eo ipso unzerstörbaren Individualität
die ganze Welt der Organismen mit Erhaltung der in jedem einzelnen
Entwicklungsstadium gewonnenen Resultate an psychischer
Kraft und Erkenntnissfähigkeit hinter sich und noch eine unabsehbare
Entwickiumjsreihe vor sich hat. Daraus ergiebt sich aber mit
zwingender Logik, dass (wie wir ja schon früher andeuteten)
die Thierseelen, ja gewissermaassen schon die nur minimaler
Empfindungen fähigen Pflanzenseelen gleichfalls unsterblich
sind, worin für den Vertreter solcher Anschauungen ein weiterer
Grund größtmöglicher Schonung und rücksichtsvollster Behandlung
liegt. Nur sprechen sowohl apriorische (d. i. logische), als Erfahrungs-
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0168