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Reusa: Genialität und Verrücktheit.
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werden behaupten. Die moderne Psychiatrie misst solchen
Beteuerungen a priori keinen Glauben bei. Durch die
Forschungen auf dem Gebiete des Somnambulismus, des
Hellsehens, Hellhörens usw. werden derartige Behauptungen
der Kranken aber in ein völlig neues Licht gerückt. Denn
seit die okkultistische Phänomenologie den Beweis zu erbringen
behauptet, dass manchen Menschen in der That die
Gabe verliehen sei, über die Sinnesgrenzen des Normal-
Erdensohnes hinaus zu vernehmen, d. h. also: mit ent-
körperten Wesen in Verständigung zu treten, seitdem ist
es wenigstens als Hypothese in Erwägung zu ziehen,
ob nicht solchen Einflüssen unsichtbarer Wesen viele Fälle
des „Verfolgungswahnsinns" zuzuschreiben sind. Ich für
meinen Theil bin überzeugt, dass — wenn die okkultistische
Lehre ihre offizielle Bestätigung und Anerkennung finden
sollte — allein schon durch richtig geleitete Erkenntniss
jener Ursache dem Uebel sehr gesteuert werden könnte.
Denn Vielen am „Verfolgungswahn" Leidenden wird ihre
Begabung des sogenannten Hellsehens und Hellhörens gewiss
nur dadurch zur Qual, weil sie deren Wesen nicht verstehen
und darum ihrer f>?ch nicht recht bedienen können.
Wie nun in dem Phänomen der Kleptomanie boshafte
Wesen willensschwache Menschen zu Handlungen zu zwingen
scheinen, die deren Charakter und gesammter Veranlagung
widersprechen, so ist es anderseits nicht ausgeschlossen, dass
gute, edle, z. B. künstlerische Beeinflussung stattfinden
kann, wo entkörperte Geister ein hierzu günstig
disponirtes, passiv mediales Menschenkind vorfinden. Als
lebendigen Beweis hierfür gab sich der Nordamerikaner
Mr. Sheparä aus, welcher vor einigen Jahren Europa bereiste
und alle Welt durch seine musikalischen Wunderleistungen
in Staunen versetzte. Er trug mit Meisterschaft Lieder,
Arien u. s. w. in den verschiedensten Sprachen vor, deren
er sonst keineswegs mächtig war, und seine Stimme bewältigte
dabei die gesammte Skala der Töne vom höchsten
Sopran bis zum tiefsten Bass. Er ergriff eine Harfe, Geige,
Cello, setzte sich an das Piano oder die Orgel — Instrumente,
deren Handhabung er niemals erlernt, — und bald erklangen
bekannte oder unbekannte Tonschöpfungen, mit bewunderns-
werther Virtuosität vorgetragen. Sheparä wehrte jedoch jegliche
Anerkennung für seine eigene Person stets ab mit
dem offenen Bekenntniss: sein eignes Zuthun sei nichts weiter
als der Besitz eines äusserst rezeptiven Hirns, gelenkiger
Einger und einer sehr modulationsfähigen Stimme. Ver-
storbeneTonkünsler vielmehr, Sänger und Komponisten
seien es, die durch seine Vermittlung sich hören Hessen.
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