http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0185
Renas: Genialität und Verrücktheit.
Was aber resultirt aus diesem Fazit für unser praktisches
Verhalten genialen und verrückten Menschen, speziell
den sogenannten „verrückten Genies" gegenüber?
Es ist zunächst vollkommen berechtigt, dass man sie
als Kranke behandelt und sie, um geistige Ansteckung
zu verhüten, von der Gesammtheit absondert. Sorgsam,
schonend und vor allem unter tiefschauendem Erkennen
der Ursache ihres genialgeistigen Irrgangs in sachgemässe
und zweckentsprechende Kultur genommen, können jedoch
manche Fälle von Verrücktheit gewiss aus der Disharmonie
zur Harmonie zurückgeleitet, kann der gebundenen
Genialität wieder zur Befreiung und gesunden Entfaltung
verholfen werden. Der Menschengeist will auch, wie jede
Pflanze, seine Luft, sein Licht, seine Wärme, Feuchtigkeit,
guten Boden und zweckentsprechende Nahrung, um nicht
zu verkümmern, sondern gesund und kräftig zu gedeihen.
Der Menschengeist will auch, solange das Pflänzlein noch
zu schwach ist, angebunden, geleitet und gestützt sein.
Er bedarf des Schutze? vor zerstörenden Hagelschlägen
und muss, wo seine Schösslinge zu üppig wuchern, gestützt,
beschnitten und verbunden werden. Ein Gärtner könnte
den Psychiater lehren!
Hüten wir uns jedoch, das Genie zu sehr zu beneiden,
den Verrückten zu sehr zu bemitleiden. Beider Zustand
ist in Anbetracht ihres Erdendaseins nicht der natürliche
. Die eine Waagschale ihres Wesens ist staik
überladen und daher das Gleichgewicht ihnen verloren
gegangen. Beide stehen schon mit einem Fusse
jenseits der Ausgangsschwelle dieses Lebens. Und beide
leiden darunter. Denn ihr Geist fühlt sich naturgemäss
nicht mehr recht zu Hause in seiner irdischen Hülle.
Daher so häufig ihr Hang zum Selbstmord, um
dem hemmenden Kerker des Leibes zu entfliehen. Daher
bei so vielen der Trieb zum Alkoholismus, um den disharmonischen
Klang ihres Innern zu übertäuben. Daher
bei andern die geschlechtlichen Ausschweifungen,
gleichsam der verzweiflungsvolle Ausbruch des Willens, mit
Allgewalt den fliehenden Geist noch in den Banden des Sinnenlebens
gefangen zu halten. Das ist der tragisch-ernste Ausgleich
für die Bevorzugung der Lieblinge des Himmels.
Begnügen wir Norraal-Erdensöhne uns also gerne damit,
weder verrückt, noch genial zu sein! Streben wir danach, durch
Befolgung der weisen Warnung der Alten: »Mr\dlv äyavl*6
während unseres Erdenlebens uns stets die Harmonie der
beiden Pole unserer irdischen Doppelnatur zu wahren I
Psycbitohe Studien. März 1901.
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