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194 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 4. Heft. (April 1904.)
seinem Freundeskreise ein eklatantes Beispiel von Gedankenlesen
an.
Eine philosophische Dogmatik giebt uns Hegel in seiner
Religionsphilosophie. Freilich hat er auch das wahre Wort
ausgesprochen: „Ein gebildetes Volk ohne Metaphysik ist
wie ein sonst mannigfaltig ausgeschmückter Tempel ohne
Allerheiligstes." Da ihm aber das Leben des Geistes das
ewige sich Ur-Theilen und wieder Zusammenschliessen des
Absoluten und die Individuen nur vorübergehende Momente
dieses Prozesses sind, so ist nicht der Mensch ewig, sondern
das Leben, nicht die Person, sondern das Moment der Persönlichkeit
. Zwar verwahrt sich nun derselbe Hegel ausdrücklich
(in der Vorrede zur II. Aufl. der Encyclopädie
und in § 564 ebenda) gegen die Unterstellung, Pantbeist
zu sein; er will Theist, ja — man staune! — Ohrist sein,
obwoL. er es thatsächlich nicht ist. Da ihm Gott nur
insofern Selbstbewusstsein hat, als er sich im Menschen
weiss und es keine Freiheit zum Guten oder Bösen bei ihm
giebt, so hat er doch die Grundquadern des Christenthums:
den persönlichen Gott, die Unsterblichkeit, die Erbsünde
vernichtet und setzt dafür seine Spekulationen über die
Dreieinigkeit an ihre Stelle. Unter Gott „Vater* versteht
Hegel den Geist, wie er nur erst der denkende ist; er re-
präsentirt also die Idee in einfacher Allgemeinheit. Unter
dem »Sohn* versteht er die reale Manifestation Gottes
durch Erschaffung der Natur und des endlichen Geistes.
Behuf 3 seiner Entäusserung entfaltet sich Gott in ihm. Der
„Geist" endlich ist das sich wissende Allgemeine, „die sich
in ihrer Besonderung als identisch mit dem Allgemeinen
wissende Idee", oder mit unverhüllten Worten: das panthe-
istische Allbewusstsein. Er wendet sich speziell auch gegen
Schleiermacher's Auffassung und Definition des Begriffes Religion
, als das schlechthin von Etwas sich abhängig fühlen,
und richtet dagegen sein bekanntes Treffwort: dass, wenn
Abhängigkeit Religion ausmache, „der Hund der beste
Ohrist" sei. Im Innersten des Geistes, auf dem Boden des
Denkens, geschieht die Erhebung des Geistes zu Gott in
vollkommenster Freiheit. Die Religion ist für Hegel „das
Wissen des göttlichen Geistes von sich durch Vermittelung
des endlichen Geistes". Bekannt ist sein Ausspruch: „Der
Philosophie ist der Vorwurf gemacht worden, sie stelle sich
über die Religion: dies ist aber schon dem Faktum nach
falsch, denn sie hat nur diesen und keinen anderen Inhalt,
aber sie giebt ihn in der Form des Denkens: sie stellt sich
so nur über die Form des Glaubens, der Inhalt ist derselbe
." Und soweit kann man vielleicht mit Hegel gehen.
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