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200 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 4. Heft. (April 1904.)
die Postbehörde, durch den berüchtigten Oberpostmeister
Fr. v. Nagier, der in so zynischer Weise das Briefgeheimniss
verletzte, dass sich sogar der preussische Gesandte in Rom,
der berühmte Historiker Niebuhr, wegen Oeffnung seiner
Aktenstücke beschwerte Eine hochgestellte Persönlichkeit
charakterisirte v. Ragier damit: „Der Mann soll sehr vollkommen
Briefe öffnen können, dies Talent hat ihn gefördert."
Als derselbe Ehrenmann Nagler einst durch seinen Famulus
Kelchner darauf anfmerksam gemacht wurde, dass ein verzweifelter
Demagoge Selbstmord begehen könnte, antwortete
er in trockener Kürze: „Der Selbstmord ist seine Sache." —
Es war die Blüthezeit der Bureaukratie und der strengsten
Zensur, welch letztere die Presse vollständig geknebelt hatte.
Eine Besprechung von Uebelständen gab es einfach nicht.
Beim Einzüge der Braut des Kronprinzen wurden 20 Men-
sehen im Gedränge erdrückt; alle Welt wusste das, aber
weder die „Vossische", noch die „Spener'sche Zeitung"
brachten ein Wort davon, um die wohllöbliche Polizei nicht
zu erzürnen. Ja, es ist unglaublich es zu sagen, eine neue,
Ausgabe von Fichte's „Reden an die deutsche Nation" wurde
vom Ober-Zensur-Kollegium verboten. — In religiöser Hinsicht
neigte die Reaktion zum Katholizismus hin, wie das
1821 abgeschlossene Konkordat und die neue Liturgie bewiesen
. Der Name Protestant wurde durch Kabinetsordre
von 1821 durch den Ausdruck „Evangelisch" ersetzt und
Jarke, der Redakteur des „Politischen Wochenblatts", einer
erzfeudalen Zeitung, trat offen zum Katholizismus über,
während Hengstenberg*s „Evangelische Kirchenzeitung" ein
Wort de Maistre's, des katholischen Reaktionärs, als Motto
trug.--
Die tiefste Erniedrigung, die das Papstthum und mit
ihm der Katholizismus vielleicht je gesehen hatte, ist die
Zeit von der grossen französischen Revolution bis zum Jahre
1814. Im Jahre 1800 hatte sich in Venedig Pius VII. die
Tiara aufgesetzt und dieser wurde ab 1809 von Napoleon
in Savona und Pontainebleau als Gefangener gehalten, der
keinen anderen Willen haben durfte als den des Korsen.
Durch den Sieg der vier grossen, verbündeten Mächte,
worunter nur eine katholische war, wurde dem Papste seine
Freiheit wiedergegeben und am 24. Mai 1814 zog Pius VII.
feierlich in Rom ein. „Es begann ein neuer Zeitabschnitt
für die Welt: eine neue Aera auch für den römischen Stuhl,"
sagt Leop. v. Ranke. Und so ist es. Unter den nun folgenden
Päpsten sollte sich die Macht des reaktionär - kulturfeindlichen
Papstthums aus tiefster Demüthigung zu ungeahnter
Macht erheben. Der erste Schritt dazu war die
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