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222 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 4. Heft (April 1903.)
man — allen voran die deutschen Materialisten Büchner und
Nückel — mit überkühnen Folgerungen bei der Hand, an
die der jene letzten grossen Lebensfragen bescheiden offen
lassende Meister selbst entfernt nicht gedacht hatte. „Die
Unmöglichkeit der Vorstellung, wie dies grosse und wunderbare
All mit unseren bewussten Ich's durch Zufall hätte
entstehen können, scheint mir das Hauptargument für das
Dasein Gottes." Dies sind die eigenen Worte von Charles
Darwin (s. dessen Biographie v. F. Darwin), Darwin hatte
allerdings seine häufigen Zweifel, doch auch in solchen
skeptischen Momenten ging er, wie er selbst sagt, nie bis
zur kategorischen Behauptung der Nichtexistenz Gottes.
Ueberdies war der eigentliche Begründer des Transformismus
, dessen Ideen Darwin nur weiter entwickelte, der Franzose
Lamarck, ein entschiedener Deist. Er unterschied 1) einen
schöpferischen Gott, 2) die JNatur, unter welcher er soviel
wie „Kraft" verstand, und 3) das Universum, welches ihm
so viel wie Materie war. Den philosophischen Unterschied
zwischen diesen beiden verwandten Geistern hat Quatrefages
sehr schön erklärt: „Lamarck ne perd jamais de vue Tensemble,
et cette contemplation le eonduit ä croire au Creatur . . .
Darwin aussi embrasse par moments Fensemble des choses et
alors il est dßiste. Mais le plus souvent il s'airete k des
details parfois minutieux, il rencontre une foule de difficultes
et alors il redevient agnostique." So ist es: Das Studium
der Details macht manchen für die höhere synoptische Idee
des Ganzen unempfindlich. —
Stehen die Sachen nicht so ureinfach: damit ein so
hohes und seltenes Gebilde des bewusstthätigen menschlichen
Geistes, wie ein Stück von Shakespeare, entstehe, bedarf
es höchst komplizirter und nur durch die höchsten Lebensformen
erzeugbarer Antezedentien. Wenn plötzlich ein Fisch
oder ein Wurm mit menschlicher Stimme eine schöne Arie
hersingen würde, so wäre dies noch ein ganz winziges Wunder
gegen das mechanisch willkürliche Erscheinen eines poetischen
Produkts aus einem mit Lettern angefüllten Sacke.
Dabei muss noch in Betracht genommen werden, dass hier
wenigstens schon vom Menschen erfundene und von Menschenhand
gefertigte Elemente, d. h. die Lettern vorausgegeben
waren. Um wie Vieles unsinniger muss also eine Zufallslehre
erst dann erscheinen, wenn alles von selbst aus gewissen
„zufälligen'4 Bewegungen der Atome zustande gekommen
sein sollte! Es heisst wohl: wenn sich einem Thiere
eine zufallig entstandene Eigenschaft als vortheilhaft erweist,
z. B. eine gewisse Farbe, die dasselbe mehr als andere
seinesgleichen, denen jene Färbung fehlt, gegen seine Feinde
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