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Maier: Die „Schlaftänzerin" Madeleine G. in München. 237
Schriftstellern und sonstigen Interessenten vorgestellt zu
haben. Sie reist in Begleitung von Herrn Emil und Frau
Elsa Magnin, einem Ehepaar, das schon verwandtschaftliche
Beziehungen nach München zieht, und das sich erst seit
einigen Jahren solchen Experimenten berufsmässig widmet.
Schon vor ca. 8 Jahren, als ich Herrn Magnin kennen
lernte — er holte sich gerade seine Frau aus München —
war er aber der geborene Hypnotiseur. Er hatte das Glück,
in Madeleine wohl eine der interessantesten somnambul veranlagten
Frauen zu entdecken.
Diese geheimnissvolle Anonyme, die heute den Gesprächsstoff
urserer Stadt bildet, ist in Tiflis geboren, hat einen
Genfer zum Mann, zwei Kinder, und hat wohl nie daran
gedacht, „Schlaftänzerin" zu werden. Sie kam zum Magne-
tiseur Magnin, um sich Kopfschmerzen wegsuggeriren oder
-magnetisiren zu lassen, und dieser entdeckte bei dieser
Gelegenheit, dass sie, eingeschläfert, wunderbar auf Musik
reagire. Im wacben Zustande ist sie mässig musikalisch
begabt: sie hat singen gelernt, nicht mehr als jede Dilettantin,
und kennt auch die herkömmlichen Salontänze. Sowie sie
aber hypnotisirt ist, reagirt sie auf jeden Ton der Musik
mit so ausdrucksvollen und charakteristischen Bewegungen,
sie übersetzt gewissermassen den Inhalt der Musik ins
Plastische so rasch und ungesucht, dass man sich unwillkürlich
überzeugt fühlt, der Komponist müsse sich stets
genau das gedacht haben, was Madeleine bei jedem Takt
seiner Musik ausdrückt.
Dr. v. Schrenck leitete die Demonstration durch einen
kleinen Vortrag ein, in dem er die Lebensdaten Madeleine'z
und ihre körperlichen und seelischen Veranlagungen vom
Standpunkt des Mediziners kurz skizzirt und an frühere
Experimente, die er mit Professor Albert v, Keller, dem Maler,
an einer Somnambulen vorgenommen, anknüpft. Er hätte
insbesondere zwei nennen können, die für den gestrigen
Abend geradezu vorbildlich waren. Das eine erzählt du Prel
in seiner „Experimentalpsychologie und Experimentalmetaphysik
", S. 65—67. Es handelt sich um Lina, die das von
Schrenck stillschweigend gelesene, prächtig dramatische
Gedicht Martin Greifs „Der Morgentrunk" träumend erlebt
; das andere führte uns Schrenck vor Jahren im grossen
Saale des Kunstgewerbehauses vor, wo er vor einem grossen
Publikum und nach einem etwas ermüdend langen Vortrage
einen pensionirten, somnambul veranlagten Offizier jene
Schlacht, in der er im Jahre 1870 verwundet wurde, bis
zum Augenblick der Verwundung wiedererleben liess. — Der
somnambule Tanz der Madeleine ist die schöne Vollendung
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