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238 Psychische Studien. Jahrg. XXXI. 4. Heft. (April 1904.)
jener ersten, tastenden Versuche. Im weiszseidenen Peplum
und Tricots an den bis zu den Knieen manchmal sichtbar
werdenden Beinen erscheint die im Grunde nicht schön zu
nennende Somnambule. Ihr ausdrucksvolles Gesicht trägt
entschieden mehr slavische als französische Züge. Ziemlich
bald, nachdem sie sich vor dem dunklen Hintergrunde in
einen bequemen Lehnstuhl gesetzt, verfällt sie, nachdem sie
Herr Magnin mit wenigen Strichen hypnotisirt, in Trance.
Die Musik beginnt: abwechselnd spielten gestern die Herren
Stavenhagen, Reichenberger, Professor Schillings, Karl v. Kaskel
Klavier; Fräulein Palmar sang, Vollnhals geigte — kurz, es
war ein merkwürdiges Konzert; das Wenigste hatte Madeleine
je im wachen Zustande gehört. Beim ersten Ton schon
setzt sie sich aber in Bewegung und drückt in unnachahm-
lieh schönen Bewegungen alles aus, was sie empfindet.
Geige und Gesang berührten sie sichtlich tiefer als das
Klavier. Die Herren Komponisten phantasiren frei, und sie
geht gleichzeitig und im Augenblick von einer traurigen zu
einer freudigen Empfindung über. Sie verändert sich völlig
und wird wahrhaft schön beim frommen Ave Maria, sie
tanzt glückselig wie ein Kind beim ersten Walzertakt; sie
stöhnt und schluchzt wirklich erschütternd und bricht
schmerzvoll zusammen beim CAop/n'sehen Trauermarsch, sie
ist die hingebungsvollste Grazie beim Vortrag der Schu-
«lann'schen Träumerei. Herr Magnin liest ihr eindrucksvoll,
französisch natürlich, eine Szene aus Viktor Hugoh „Luc-
rezia Borgia", dann die Schlusszene aus „Salome44 vor: sie
spielt beide ausdrucksvoller und hingebender, als es die
grösste Schauspielerin vermöchte. Merkwürdig war ihr
Verhalten Wagner gegenüber. Zum erstenmal wurde ihr
die Erwartungsszene der Isolde (2. Akt) und der Liebestod
vorgespielt. Die scharf und leidenschaftlich drängenden
Rhythmen in der ersteren Szene begleitete sie auffallender
Weise nicht mit freudigen Gefühlen wie Isolde, sondern
mit fast schmerzlichen. Wagner scheint in ihrer romanisch-
slavischen Natur weniger zu liegen; oder sollte ihre Auffassung
ein Prüfstein für die Uebertriebenheit moderner
musikalischer Ausdrucksmittel sein?! —
Die ausgestellten Photographieen geben nur einen
schwachen Begriff von dem Phänomen. Aber Eines hält die
photographische Platte fest, gerade das Kennzeichen, dass
die Sache echt und kein Schwindel ist: das katalep-
tische, nach innen schielende Auge, das
Madeleine die ganze Zeit beibehält und erst verliert, wenn
sie wieder erweckt wird. — Zwei Stunden hatte sie getanzt
und gespielt, zweimal war sie zu einer Ruhepause geweckt
und wieder eingeschläfert worden. Sowie die Musik selbst
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