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Maler: Die „Schlaf tänzerin" Madeleine G. in München. 239
eine Pause macht, bleibt sie starr in der eben eingenommenen
Stellung stehen. In einem solchen Augenblick bittet Freiherr
v. Schrenck ärztliche Kollegen auf das Podium zur
Untersuchung. Diese finden alle Anzeichen des völligen kata-
leptischen Zustandes. Unser deutsches Gesetz schützt solche
Willensberaubung bekanntlich mehr, als das französische
und englische. Madeleine darf sich deshalb bei uns nur vor
einem geladenen Publikum, nicht öffentlich, sehen lassen.
Im Mai aber wird sie in London wieder öffentlich auftreten,
nachdem sie sich hier und vermutlich auch in Stuttgart*)
noch in einigen Privatcirkeln hat sehen lassen. Es ist
schade, dass Freund du Prel den gestrigen Abend nicht
erlebt hat; er würde ihn erfreut, nicht überrascht haben.
Wenn ich mich recht erinnere, war er, wie Magnetiseur
Magnin und die Aerzte auch heute noch der Ansicht, dass
das Medium oder die Somnambule nicht leide. In
der That weiss Madeleine, wenn sie erweckt wird, nichts,
was inzwischen vorgegangen. ^C'est joli", ist ihr erstes
Wort, wenn sie die Blumengaben sieht, die inzwischen vor
ihr niedergelegt worden, wenn sie den Beifall hört, der nun
erst laut werden darf. Man wird aber den Eindruck nicht
los, dass es sich um eine recht ernste und pathologische
Sache handelt. — Madeleine G. wird vielfach mit Tsadora
Duncan verglichen werden. Sie sind nicht zu vergleichen.
Es ist doch kein Zweifel, dass die erstere alles, Lust und
Schmerz, was sie ausdrückt, im gesteigertsten Maasse selbst
empfindet. Man kann auch im Traum leiden und es ist
dieselbe Persönlichkeit, die dann aufwacht und kaum mehr
als eine trübe Erinnerung davon bewahrt. Aber auch jene
Schauspieler nützen sich früher ab, die mitempfinden, was
sie spielen, und es gibt noch keine Wissenschaft, die in
jene dunklen Tiefen der menschlichen Psyche hinableuchtet,
wo solche Erlebnisse, seien es auch Erlebnisse des Traumlebens
, unsichtbare aber unverwischbare Runen graben.
Dagegen die Duncan: wer hätte nicht gelächelt, wenn sie
zum Schluss mit ihren, das Land der Griechen suchenden
nackten Beinen an die Rampe vortritt und mit komischschämiger
Geberde und gutgespielter verwunderter Naivität
zum sitzenbleibenden Publikum sagt: „Meine kleine Tanz
is finished."--
In einem Feuilleton des „Stuttgarter N. Tagbl." vom
23./IL er. äussert sich Eduard Engels (München) u. a. wie
folgt: „Als die Münchener Sezession gegründet wurde, beschäftigten
sich unsere Modernen kaum lebhafter mit der
*) Nach späterer Mittheilung des »Neuen Tagbl.* im kgl.
Wilhelmatheater. am 24. März für Aerzte und Künstler und am 26.
für weitere geladene Kreise. — Red.
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