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Maier: Die „Schlaftänzerin" Maleleine G. in Mönchen. 241
dem Sessel und vollführt einige zaghafte Bewegungen. Das
dünne, weisse Seidengewand flattert, Trikots werden sichtbar.
Und dann hebt im grellen Schein der Blendlaterne der zugleich
wundervollste und unheimlichste Tanz an. Jede
Fiber des von keinem Bewusstsein geleiteten Frauenkörpers
bebt im Ansturm der Tonwellen wie das Blatt des Baumes
im Winde. Füsse, Arme, Hände, Gesicht, der ganze Körper
verwandeln sich in Rhythmen und Stimmungen . .
„Plötzlich hält die Musik inne, und aus der Tänzerin
wird eine Statue. Starr, einem farbigen Marmorbildniss
vergleichbar, verharrt der Frauenkörper in der Stellung,
die er beim letzten Takte der Musik gerade eingenommen.
Professor v. Sehrenck-Notzing fordert die Anwesenden nun
auf, das Podium zu ersteigen und nach Belieben Untersuchungen
anzustellen. Die Aerzte kommen, sehen und
staunen. Im Parkett aber hebt ein begeistertes Disputiren
an. Albert v. Keller ist so hingerissen, dass er nur immer
wieder die Worte: „Ein poetisches Schauspiel* wiederholen
kann . . .* Der feinsinnige Alfred v. Mensi konstatirt das
eigenthümliche Verhalten der Tänzerin gegenüber der
Wagner'sehen Musik. „Der lebhafte Otto Julius Bierbaum
lässt eine Disputation über diese Frage gar nicht aufkommen,
er schwärmt: Nie im Leben, auch nicht bei den grössten
Schauspielern, habe ich einen menschlichen Körper, ein
menschliches Gesicht, seelische Vorgänge so zum aller-
stärksten und dabei nie über die Grenze des Schönen hinausgehenden
Ausdruck bringen sehen! Wenn ich auch mehr
und mehr die Empfindung gewann, dass das, was sich zeigt,
eine Offenbarung von räthselhaften Kräften sein muss, so
hatte ich doch nie das Gefühl von etwas Pathologischem,
ja auch nur roh Elementarem. Das Wunderbare wirkte
wie eine Leistung der Kunst, einer Kunst allerdings, die
aus den Tiefen der Inspiration kommt. — Dass menschliche
Augen so glühen können I Dass der Mund eines Menschen
stumm so jubeln und gleich darauf so weinen kann! Und;
dass ein Mensch so im eigentlichsten Sinne bis in die
Fingerspitzen von musikalischem Gefühl beseelt sein kann,
dass jedes einzelne Glied sich im Ehythmus krümmt und
streckt! In der That, es ist ein Wunder! Die Herren
Doktoren mögen es erklären. Meiner Ergriffenheit wollen
nur Ahnungen zu Hilfe kommen. Was ich aber weiss, ist:
Ich habe ein grosses Glück geDOSsen, indem mir Gefühle
zum erstenmal bei wachen Sinnen als Schönheit anschaulich
wurden. Und eine Gewissheit habe ich gewonnen: Dass
die Schönheit keine Erfindung einzelner begnadeter Künstler
, sondern etwas dem Menschen überhaupt Immanentes
Psychiiche Studien. April 1904 16
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