http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0258
Maier: Die „Schlaftänzerin" Madeleine 6. in München. 249
sie giebt ihre Erregbarkeit durch Musik zu, theilt mit —
und der Magnetiseur Magnin bestätigt es —, dass sie alsbald
nach den ersten Takten einer Musik, die sie ergreife,
einzuschlafen pflege und alsdann in den somnambulen Zustand
gerathe, in dem sie von sich nicht das Geringste wisse.
Dadurch sei sie entdeckt worden, sei Sarah Bernhardt auf dies
ausserordentliche Phänomen aufmerksam gemacht worden,
auf diese Nebenbuhlerin, die die göttliche Sarah unbewusst
übertreffe. Man fragt sie, ob sie müde sei. ÄSehe ich so
aus, als ob ich müde wäre? Nein, gar nicht 1 Ich bin es
auch nicht. Aber ich habe jetzt grossen Appetit!" Nichts
von Komödie in der ganzen Person! Nicht einmal Komödie
in dem begleitenden Magnetiseur! Alles ganz einfach und
darum ein um so grösseres — Wunder! —
Liegt. denn in der Tiefe des menschlichen Organismus
so unbewusst die ästhetische Schönheit? Das wäre ja
herrlich: denn dann wäre die Hässlichkeit nur ein Produkt
unserer gesellschaftlichen Bildung, besser Unbildung, also
entschieden unwahr, mithin unbedingt abzuweisen, abzuwerfen
. Eine Reihe derartiger Fragen durchlief den Zirkel
der versammelten Münchener Intelligenzen. Zu Ende war
jede Skepsis, Staunen über die Entdeckung einer so ungeahnten
Natur-Urkraft der Rest.a--
Heft 9 der „Woche" brachte einige der schönsten
Bilder der russischen „Traumtänzerin", welche gewonnen
wurden, nachdem ihr Hypnotiseur, Professor Emile Magnin,
im geeigneten Augenblick Muskelstarre bei seinem Medium
hervorgerufen hatte; sie zeigen deutlich, dass der Dame, die
in berückend plastischer Geberdensprache der Reihe nach
Scham, Seligkeit, Reue, Verzweiflung, Glaube und Jubel
zum Ausdruck bringt, alles Gesuchte und Gemachte fernliegt
. — Die Vorführung solcher (bekanntlich zuerst von
de Roclias methodisch studirter) unbewusst mimischer
Bewegungen bezw, Gesten ist durchaus nicht —- wie
von Seiten kurzsichtiger Spiritisten neuerdings behauptet
wird — eine müssige, werthlose Spielerei schöngeistiger
Dilettanten, sondern — von ihrer ästhetischen Bedeutung
für die Künstler ganz abgesehen — für den ihre Tragweite
erkennenden und sein spezielles Fachgebiet von einem höheren
und freieren Gesichtspunkte aus überblickenden Psychologen
geradezu epochemachend und von eminentem wissenschaftlichen
Interesse, insofern sie über die Leistungsfähigkeit
des das phänomenale Tagesbewusstsein überragenden
und eben deshalb auch ^ohl überdauernden unbewussten
Hintergrunds der menschlichen Seele ein ganz neues und
unerwartet helles Licht verbreiten.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0258