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Kordon: Geistiges Schaffen unter Inspiration.
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schrieb ich die Dichtungen nieder. Der Hypnotismus liefert
hierfür zahlreiche Analogien, und ich bin überzeugt, dass
die Inspiration der Dichter und Künstler im Allgemeinen
auf diese Weise vor sich geht. Das bekannte Wort: „Den
Seinen giebt's der Herr im Schlafe", lässt sich ohne Zweifel
auch darauf anwenden. Es ist übrigens auch festgestellt,
dass selbst Mathematiker der Lösung schwieriger Probleme
im Schlafe näher gekommen sind. —
Eine sehr bedeutungsvolle Sitzung fand am Nachmittag
des 3. Juni 4902 in der Villa „Stella", dem von uns damals
bewohnten Landhause, statt, der auch Freiherr v. Erhardt
und Präsident G. Sulzer beiwohnten. Nach einigen rein
persönlichen Mittheilungen an eine Frau in Zürich und Freiherrn
v. Erhardt richtete durch den Mund der in Verzückung
gerathenen Mittlerin einer unserer Inspiratoren begeisterte
Worte ehrfurchtsvoller Begrüssung angeblich an jenen Geist,
den das Christenthum zuhöchst verehrt, und ein von mir
gleich nach der Sitzung unter bewusster Inspiration geschriebenes
Gedicht beglaubigte diese Kundgebung mit aller
nur wünschenswerthen Deutlichkeit in jeder Hinsicht. Auch
die Inspiration der nächsten Wochen und Monate lässt auf
die reinste geistige Quelle schliessen, aus der wir Menschen
überhaupt schöpfen können, und wenn die argusäugige und
dennoch, ach, wie so oft, maulwurfsblinde Skepsis gerade
die Behauptung dieser geistigen Verbindung als das untrügliche
Kennzeichen bewussten oder unbewussten Betruges,
zum Mindesten aber als das Kriterium einer bedauerns-
werthen Selbsttäuschung von vornherein betrachten wollte,
so wäre solchem schlagfertigen Zweifel gegenüber vor Allem
daran zu erinnern, dass unsere Kenntniss der Gesetze, die
den Weltlauf beherrschen, zur Zeit noch nicht sehr weit
fortgeschritten ist, und dass bereits Arago erklärt hat: „Dem
fehlt es an Klugheit, der ausser bei der reinen Mathematik
das Wort „unmöglich" ausspricht."
tleberzeugende Beweise für einen Thatbestand, wie er
oben angedeutet wurde, werden freilich von ernsthaften
Denkern und Wahrheitsuchern gefordert werden müssen,
bevor sie sich ein Urtheil bilden können, und ich bin nicht
nur von der Hoffnung erfüllt, sondern auch von der Gewissheit
beseelt, dass die zu geistigem Leben Auferwachten die
Wucht der Beweisgründe zu würdigen wissen werden.
Im Juni 1902 hatte ich drei „Gesichte", zwei in vollständig
wachem Zustande, eines im Traume, doch war ich
in dem letzteren Falle, als ich unmittelbar nach dem „Gesicht
" erwachte, tief überzeugt, keinen gewöhnlichen Traum
gehabt zu haben. Jetzt weiss ich auch bereits, welche Be-
Psychiscbe Studien. Mai 1904. 19
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