http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0291
262 Psyohisehe Studien. XXXI. Jahrg. 5, Heft. (Mai 1904.)
deutung dieses ,.Gesicht" hatte, ja sogar, auf welche Fei-
sönlichkeit sich der Schluss des seltsamen Trauraes bezog.
Das erste „Gesicht" bestand darin, dass ich Morgens, als
ich, ganz ausgeschlafen, mit geschlossenen Augen, aber unzweifelhaft
wach, im Bette lag, das Gefühl hatte, wie wenn
ich, hoch in Lüften schwebend, auf einen von leuchtendem
Grün umgebenen See herniederblickte. Gleichzeitig war es
mir, als ob etwas aus meiner Brust herausgezogen würde,
doch empfand ich keinen Schmerz, nur eine eigentümliche
Beklemmung, die mit Verwunderung und kritischer Neugier
gemischt war. Das Oefinen der Augen hatte zur Folge,
dass das „Gesicht" verschwand, aber ein neuerliches Schliessen
zauberte es wieder hervor, obwohl ich auch meine Lage
verändert hatte. Später machte ich vergeblich den Versuch,
mit Hülfe der Einbildungskraft Landschaftsbilder, die ich
lebendig in der Erinnerung habe, in derselben Schärfe und
Anschaulichkeit vor mein geistiges Auge treten zu lassen.
Mein zweites „Gesicht", das ich im Traume hatte, zeigte
mir eine öde Gebirgslandschaft mit vielen steil aufragenden,
nackten Felsspiizen. Graue Dämmerung breitete ihre
schweren Fittiche über Höhen und Tiefen, und ich erblickte
viele Schläfer in den engen Schluchten des Gebirges. Auch
ich legte mich nieder, doch erhob ich mich stracks wiederum,
denn nun waren alle Gipfel und Zacken mit einem Male
von wunderbarem Frühroth Übergossen. Ein herrlicher
Morgen glühte auf allen Kuppen und Schroffen. Ich lenkte
meine Schritte seitwärts und gelangte, immer noch in felsiger
Gegend, an einen Ort, wo ich mehrere Menschen in der
Nähe eines aus nothdürftig behaltenen Steinen zusammengesetzten
, mit grünen Kränzen geschmückten Altares gewahrte
und die Worte vernahm: Was will denn dieser
hier?" Gleichzeitig kamen zwei Männer mit drohenden
Mienen an mich heran; in der erhobenen Rechten des
Grösseren der Beiden sah ich einen Stein. Furchtlos und
entschlossen trat ich ihnen entgegen — und erwachte in
demselben Augenblicke. — Dieses „Gesicht", das symbolisch
einen wichtigen Wendepunkt meines Lebens in den Bereich
meines sinnlichen Bewusstseins rückte, hat sich, um dies zu
wiederholen, vor Kurzem bereits verwirklicht. Zu gelegener
Zeit werde ich auch darüber berichten. Das dritte „Gesicht
" hatte ich an Bord eines Dampfers, auf dem wir von
Genf nach üuchy fuhren. Wir sausen auf dem Hinterdeck,
als ich durch ein eigentümliches Zucken im rechten Vorderarm
aufgefordert wurde, zu schreiben. Während ich mich
dazu anschickte, schien es mir, als ob ich mit meinen leiblichen
Augen ein marmorweisses Antlitz in so edlen Um-
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0291