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Kordon: Geistiges Schaffen unter Inspiratioo. 283
rissen sähe, wie sie nur hellenische Kunst auf ihrem Höhepunkte
zu bilden verstand. Strahlende Augensterne verliehen
diesem Antlitz Leben. Bevor ich in freudigem Staunen einen
Gedanken über dieses Phänomen ausdenken konnte, war es
verschwunden. Es war damals lichter Tag, die Sonne schien
hell auf das Verdeck hernieder. An Sinnestäuschungen
habe ich zu keiner Zeit gelitten, ich darf mich im Gegen-
theile rühmen, sehr gute Sinne zu besitzen, obwohl ich nach
einer in Wald und Feld verbrachten Kindheit lange Jahre
die harten Schulbänke drückte. In den zwei Monate währenden
Sommerferien erholte ich mich allerdings immer wieder
im Freien und habe meinen Körper als Turner, Schwimmer
und Fechter frühzeitig gestählt und abgehärtet. Dies hervorzuheben
, ist vielleicht gegenüber der ausgesprochenen Neigung
in weiten Kreisen, alle übersinnlichen Wahrnehmungen einzelner
Menschen auf krankhafte Anlagen und Zustände
zurückzuführen, unbedingt geboten.
In Genf lernten wir damals — Juni 1902 — Madame
Erath, eine äusserst liebenswürdige Frau, kennen, die ihre
freie Zeit — sie ist Leiterin einer Postaratsfiliale — zur
Verfassung merkwürdiger und lesenswerther Werke in französischer
Sprache benützt. Ihr Buch, das den Titel trägt:
„La folie" (die Narrheit), hat in den Kreisen der Fachleute
Aufsehen erregt. Ihr Schriftstellernarae ist Barel. Sie
schreibt nach meiner Ueberzeugung unter unbewusster
Inspiration. Ich verfasste bei unserem ersten Zusammentreffen
in ihrer Wohnung ein inspirirtes Gedicht, dessen Inhalt
sie als eine geistige Vorkämpferin kennzeichnet Meine
Frau versprach Madame Erath, die des Deutschen nicht
mächtig ist, eine Uebersetzung des Gedichtes in Prosa; nachdem
wir aber sehr bald darauf nach Hause zurückgekehrt
waren, erhielten wir einen neuen, äusserst kräftigen Beweis
für die Thatsache der bewussten Inspiration. Eines Tages
begab ich mich nämlich, ohne mit meiner Frau vorher über
das in der Wohnung der Madame Erath geschriebene Gedicht
auch nur ein Wort gesprochen zu haben, in ihr Arbeitszimmer
und sagte unvermittelt: „Du wirst jenes Gedicht
ins Französische übertragen."
„Sonderbar," entgegnete meine Frau, „dass ich mich
hierzu gerade jetzt gedrängt fühlte."
„Aber," fiel ich ihr ins Wort, „weisst Du auch, dass
Du das Gedicht nicht in Prosa, sondern in Versen übersetzen
wirst? Ich habe es soeben erfahren." In der That war
mir in der früher geschilderten Weise durch Gedankenübertragung
mitgetheilt worden, wras meine Frau, aufs Höchste
überrascht, aus meinem Munde vernahm. Denn sie hatte
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