http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0311
302 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1904.)
schaft durch den Ursprung und die gegenseitige Ueber- und
Unterordnung der „Begriffe".
Die Annäherung der „Begriffe" an „Allgemeinhegriffe"
von der grössten unveränderlichen Setzbarkeit beruht einer- t
seits auf der grössten Differenzirung der „Partialsysteme" *
— „Zentren" — und andererseits auf der Ausbildung nur
solcher Koordinationssysteme, die in ihrer Zusammensetzung
nur durch das denkbar meist Wiederholbare bedingt sind
(die also keine „Beibegriffe" enthalten).
Beides ist durch die grösste Uebung des Meistwieder-
holbaren in der Umgebung und im Zentralnervensystem
bedingt und bildet somit ein „nothwendiges" und „natürliches
" Resultat der Entwickelung — des Lebens des Zentralnervensystems
.12)
9. Auf Koordinationssystemen beider Art beruhen auch
die Inhalte der menschlichen Aussagen in der Form
von „Sätzen", z. B. „der Donner rollt", „die Sonne geht
aui"18); sie entsprechen den Auflösungen der „Akkorde" in
ihre ßestandtheile-Glieder und den „Melodien".
Auf der Verschiedenheit der Zusammensetzung der
Koordinationssysteme in verschiedenen Zentralaluerven-
systemen beruht die Verschiedenheit der „Anschauungen",
„Begriffe" verschiedener Individuen zu verschiedenen Zeiten,
also auch die sich mit jedem Geschlecht wiederholende
Verschiedenheit der „Anschauungen" der älteren und jüngeren
Generation; (das Gehirn verliert mit der Zeit seine „Plastizität
" : — die Möglichkeit neue Koordinationssysteme zu entwickeln14
); James meint, dass man schon nach dem 25. Lebensjahre
wenig neue „Begriffe" erwirbt; jedenfalls wird es hier
grosse individuelle Unterschiede geben).
Dasselbe gilt von den Verschiedenheiten der „Denkformen
" und „inneren Sprachformen" bei Individuen verschiedener
Kulturstufen10) und von dem völligen Fehlen
12) Vgl. die bezeichnende Entwickelung des „Wahren" ans dem
„Seienden" in den indogermanischen Sprachen und im Denken
nach der Tafel in Nr. II.
18) Dass hier die „Gesammtvorstellung als ein Ganzes simultan
im Bewusstsein ist, und dass die Aussage lediglich das Anschauungsbild
in Theile gliedert, die in Wirklichkeit nicht getrennt vorkommen
... ist unmittelbar einleuchtend". {Wundt: Völkerpsychologie
I, 2. p. 318). — Vgl. auch Wundtf* Definition des „Satzes":
letzterer ist „der sprachliche Ausdruck für die willkürliche Gliederung
einer Gesammtvorstellung in ihre in logische Beziehungen zu einander
gesetzte Bestandteile" (ib. p. 240).
14) In Bezug auf solche nicht mehr entwicklungsfähige Individuen
ist der Satz des Gorgias: dass „das Wissen nicht mittheilbar
sei" anwendbar.
Vgl. Wundt, Op. cit. I, 2, p. 202, 410, 413.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0311