http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0324
Mai er: Neues von der Schlaf tänzerin.
315
Schriftsteller, Gelehrte, Mitglieder des Adels und der Hochfinanz
, die Oberbürgermeister von Stuttgart und Cannstadt,
die Präsidenten der beiden Kammern u. s. w. An der
Spitze des hiesigen Comitees standen Obermedizinalrath Dr.
H. v. Burckhardt und Freiherr F. v. Gemmingen-Hornberg,
und man darf den Herren Dank wissen, dass sie den Stuttgartern
Gelegenheit geboten haben, dieses ausserordentliche
Phänomen zu schauen.
Ein ausserordentliches Phänomen — das ist es auf alle
Fälle. In München hat sich bekanntlich ein leidenschaftlicher
Wort- und Federkrieg über den Zustand der Frau
Madeleine während des Tanzes erhoben. Ueberflüssig ist zu
bemerken, dass sich gestern abend hier dieser Krieg im
Kleinen alsbald fortsetzte. Entstehen diese allgemein bewunderten
Künste thatsächlich in der Hypnose, oder werden
sie vielmehr in völlig wachem Zustand ausgeübt, so dass
also eine Täuschung des Publikums vorläge? Ueberall,
wo man hinhörte, wurde gestern Abend während der Pausen
und auf der Eückfahrt diese Frage fast ununterbrochen
erörtert In München ist in den letzten Tagen eine
kleine Schrift mit dem Titel „Die Schlaf tänzerin Made-
leine ein Protest gegen den Missbrauch der Wissenschaft
" von Dr. Roberts erschienen; wer aber glauben
würde, darin auch nur den Versuch einer wissenschaftlichen
Widerlegung der Annahmen und Angaben der
Protektoren Madeleine's zu finden, würde sich sehr enttäuscht
sehen, — es ist nichts als eine im lieblichsten Bajuwarenton
angelegte Sammlung von Witzeleien und Schimpfereien auf
die „Helden des Münchener Liberalismus*, die abergläubischer
seien, als „sämmtliche nieder- und oberbayerische
Bauern und Bäuerinnen zusammengenommen." Dieser Schrift,
die sich schon durch ihren Ton als ernstlicher Beachtung
unwerth erweist, und einigen weiteren kritischen Aufsätzen
stehen die Aeusserungen von 14 Münchener Nervenärzten
und anderen Spezialisten nebst dem Gutachten des bekannten
Lehrers der Psychologie an der Universität München, Prof.
Dr. Theodor Lipps entgegen. Der letztgenannte hochangesehene
Forscher bemerkt u. A.:
„Die Hypnose schafft nicht Kräfte, sondern sie befreit
solche. Was in ihr vollbracht wird, entstammt den Kräften,
Antrieben, Tendenzen, die auch ohne die Hypnose da sind
oder da waren. Solche naürlichen Kräfte aber sind im
normalen Zustande jederzeit in ihrer Wirkung mehr oder
minder gehemmt, eingeschränkt, getrübt, abgelenkt durch
gegenwirkende Faktoren. Sie üben darum nicht ihre ganze
natürliche Wirkung. Diese kann ihnen die Hypnose ver-
21*
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0324