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In der Hypnose.
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Gräfin K.9 eine russische Aristokratin in gesetztem
Alter, eine Dame, die höchste Eleganz mit ungewöhnlicher
Bildung und kraftstrotzender Energie in sich vereint, suchte
mich wegen eines Leidens auf, das ich mit Bypnotismus
zu heilen suchte und auch glücklich heilte. Die erste
Hypnose war eine unvollständige. Die Patientin
war, da es überhaupt ihre erste Hypnose war, auf die Vorgänge
zu aufmerksam und dadurch sehr abgelenkt; ausserdem
hatte sie Furcht, wie das unbegründeterweise meistens
bei erstmaliger Hypnose der Fall ist. Die zweite Hypnose
gelang völlig, nachdem ich mir das Vertrauen der Patientin
errungen hatte.
Im Zimmer hatte ich einen sehr munteren Kanarienvogel
im Käfig, dessen Thür ich immer offen Hess. Der
Vogel, ein selten schön zwitzscherndes Exemplar (Harzer),
ging aus seinem offenen Käfig nur dann heraus, wenn ich
in das Zimmer trat. Er flog auf meine Schulter und
zwitscherte lustig. Es machte mir immer den Eindruck,
als ob er mir etwas erzählen wollte. Auf die Schulter eines
andern flog der Vogel nie. Während der Hypnose
zwitscherte der Vogel schmetternd. Da
mit einem Male fing die hypnotisirte Patientin
so täuschend zu zwitschern an, dass ich im ersten Augenblicke
nicht wusste, woher die Laute kommen. Es waren
unzweifelhafte Vogellaute, die ich nie vorher von einem
menschlischen Kehlkopfe hörte.
Der Vogel flog sofort auf die Schulter der
Patientin, und es entwickelte sich ein förmlich reges
Zwiegespräch zwischen Vogel und Patientin. Der
Vogel schmetterte sehr erregt, und ich sah ganz deutlich
aus den Mienen der Patientin, dass sich ein »Gespräch *
abspielte. — Kaum war die Patientin erweckt, als sie den
Vogel auf ihrer Schulter gewahrte und entsetzt aufschrie.
Der Vogel entflog und die Patientin bat mich, ihn in den
Käfig zu sperren, da sie vor Thieren jeder Art Furcht
habe. Dieses Experiment wiederholte ich mit demselben
Effekt dreimal.
Nach erfolgter Heilung machten wir einen Ausflug
in den Wienerwald, wo sich dasselbe Schauspiel nur in
anderer Form wiederholte. Wir gingen durch den Wald
bei Mauer-Eodaun und blieben im Gespräche stehen. Die
Patientin lehnte an einem Baum, da traf sie mein Blick,
indem ich ihr etwas erklärte, wobei ich sie, ohne es zu
wollen, hypnotisirte, ein Vorkommnis, das bei öfterem
Hypnotisiren eintritt. Die Spatzen, die schon vorher einen
Spektakel machten, ohne damit auf die Patientin einen be-
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