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330 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1904.)
seiner «Reden über die Religion an die Gebildeten unter
ihren Verächtern" zu gestatten: Offenbarung, Wunder, Inspiration
zu verwerfen. Die Religion ist ihm das „unmittelbare
Bewusstsein der Gottheit, wie wir sie finden, ebenso
sehr in uns selbst, als in der Welt. Und ebenso ist das
Ziel und der Charakter eines religiösen Lebens nicht die
Unsterblichkeit, wie Viele sie wünschten und an sie
glauben, oder auch nur zu glauben vorgeben, — nicht jene
Unsterblichkeit ausser der Zeit und hinter der Zeit, oder
vielleicht nur nach dieser Zeit, aber doch in der Zeit,
sondern die Unsterblichkeit, die wir schon in diesem zeitlichen
Leben u n mittelbar haben können, und die eine Aufgabe
ist, in deren Lösung wir immerfort begriffen sind.
Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen
und ewig'sein in jedem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit
der Religion." Dies ist aber klipp und klar Pantheismus
. Dieser tritt auch unverhüllt in dem berühmt
gewordenen Satze hervor: „Opfert mit mir ehrerbietig eine
Locke den Manen des heiligen, verstossenen Spinozal Ihn
durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein
Anfang und sein Ende, das Universum seine einzige und
ewige Liebe.« Eine individuelle Unsterblichkeit kennt dem-
nach Schleiermacher nicht. Gleich in der ersten Rede
steht der Passus: „Frömmigkeit war der mütterliche Leib,
in dessen heiligem Dunkel mein junges Leben genährt und
auf die ihm noch verschlossene Welt vorbereitet wurde;.. .
sie half mir, als ich anfing, den väterlichen Glauben zu
sichten und Gedanken und Gefühle zu reinigen von dem
Schutte der Vorwelt; sie blieb mir, als auch der Gott und
die Unsterblichkeit der kindlichen Zeit dem Auge
verschwanden".
Schleiermachern ist dieses besondere Dasein nur eine
Offenbarung des allgemeinen Geistes. Er erkennt schon in
den „Reden" die hauptsächlichste Bedeutung des Christen
thums darin, dass mit ihm in der Entwicklung der Menschheit
eine höhere Ansicht der Dinge und mitten in der Endlichkeit
ein ewiges Leben in Gott sei. Das höchste Ziel
christlicher Frömmigkeit bestehe aber darin: dass man keinen
Augenblick entblösst sei von dem Gefühle des Unendlichen.
Auch in erkenntnisstheoretischer Hinsicht hat Schleiermacher
Bleibendes geleistet: er hat zuerst in mustergültiger Weise
den Zusammenhang von Naturgesetsr. und Sittengesetz untersucht
; beides sind Gattungsbegriffe und als solche logische
Kategorien, d. h. blosse Denknothwendigkeiten« Schleiermacher
hat schon ausgesprochen, was in der modernen Ent-
wickelungsethik seit Herbert Spencer als feststehend gilt,
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