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Dankmar: Geistige und soziale Strömungen eto. 331
dass die Unsittlichkeit zum Sittengesetz sich nicht anders
verhalte, als die Abnormität zum Naturgesetz. — Als
Mensch und Charakter ist Sehl, gar nicht hoch genug einzuschätzen
. Die Lehrfreiheit auch im Gebiete der Kirche
vertheidigte er mit Energie. Als der König durch Kabinetts-
ordre die Form des Gottesdienstes regeln will, da wird
seine alte Kampflust rege. Ja, er war sogar eine Zeit lang
entschlossen, aus der Landeskirche auszutreten und eine
freie, evangelische Gemeinde zu bilden. Es charakterisirt
ihn, dass er als letztes Ziel der Reformation erkennt:
„einen ewigen Vertrag zu stiften zwischen dem lebendigen
christlichen Glauben und der nach allen Seiten freien wissenschaftlichen
Forschung". Mit dem grössten Muthe der
Wahrhaftigkeit, allem Ketzergeschrei der Orthodoxen zum
Trotze, hat er in Glaubenssachen: Freiheit von jeder menschlichen
Autorität gefordeit.
Wie stellt sich nun dieser selbe Schleiermacher zu den
Wundern Jesu im Neuen Testamente ? In seiner „Glaubenslehre
" und in seinem „Leben Jesu", das erst nach seinem
Tode herausgegeben wurde, spricht er über diesen Punkt.
Diese Wunder an sich sind ihm etwas Nebensächliches;
könnte er sie hinwegschaften, würde er es sicher thun, aber
sie stehen nun einmal da. Ihre Anerkennung gehört weniger
.,zu unserem Glauben an Christum, als wahrscheinlich zu unserem
Glauben an die Schrift". Diese Wunder können nicht in das
geläufige Naturgebiet herabgezogen werden; damals — zur
Zeit Christi — gab es noch nicht den uns jetzt geläufigen
Gegensatz von Natürlichem und Uebernatürlichem, weil es
damals — so behauptet Schleiermacher — noch kein Wissen
von der Natur gab. „Aber auch wir Jetztlebenden können
das Gebiet des Uebernatürlichen eigentlich nirgends mit
vollkommener Gewissheit bestimmen, weil wir die Natur
nicht ausgemessen haben und nicht an die Grenze derselben
gekommen sind. Wir haben „kein Recht, irgend etwas für
unmöglich zu halten". Insbesondere können wir nicht „die
Grenzen für die Wechselwirkung des Leiblichen und Geistigen"
genau bestimmen. Schleiermacher nimmt eine organisch-physische
Wirkung an, die „vom Menschen aus auf den Menschen
geht"; das Agens und die Wirkung ist dabei etwas Natürliches
. Christus z. B. wirkte die Heilungswunder geistig
durch das Ueberge wicht seines schlechthin kräftigen Gottes-
bewusstseins, physisch durch das Aussprechen dieses
Willens und durch Berührung. Das Wunder ist Schleiermacher
absolut unmöglich, die (evangelischen) Wunderberichte
, sofern für sie vernünftige Analogien zu finden sind,
erscheinen ihm relativ möglich. Diese „vernünftige Ana-
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