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334 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 6. Heft (Juni 1904.)
Magnetismus) • . • haben gelehrt, über das aus den gewöhnlichen
Naturgesetzen nicht Erklärbare nicht so leicht abzu-
urtheüen." Aber freilich fällt das religiöse Wunder nicht
in diesen Bereich; für den Theologen Neander ist das
Wunder mehr, als potenzirte Naturkraft, wie sie sich jeweils
in den Stiftern der Religionen, als Organen des Weltgeistes,
offenbart. Das Wunder ist nur ein Moment in der Ge-
sammtoffenbarung Gottes, ein Merkmal des in der Sinnenwelt
sich offenbarenden Göttlichen, ein Ojfietov, ein Zeichen,
welches vom Sinnlichen zum Uebersinnlichen, Göttlichen
hinweist. Es steht im Kausalzusammenhange des grossen
göttlichen Weltplanes, von dem diese Erscheinungswelt nur
eine Seite ist; es steht sehr wohl in harmonischem Zusammenhange
mit diesem Weltplane, aber laut eines
höheren Kausalnexus. Neander meint, dass es Wunder
Christi gebe, bei denen es keine „Analogie mit dem
Natürlichen" mehr giebt. Hierher rechnet er die Fern-
heilungen und fügt hinzu: „Die Einwirkung der Willenskraft
konnte die Schranke des Baumes durchbrechen." Betreffs
der Wunderherrschaft Christi über die Natur meint
er, dass wir, von der Totalanschauung des Gottmenschen
ausgehend, uns nicht mehr dagegen sträuben werden, „von
diesem Christus zu glauben, dass er, auf die innersten Kräfte
der Natur einwirkend, wie es keinem Andern möglich war,
durch die unmittelbare Macht des Göttlichen eine solche
Herrschaft über dieselbe, von der wir nichts Aehnliches
finden, ausgeübt habe." Das versteht sich klar für den,
dem Christi ganze Erscheinung in das Reich des Uebersinnlichen
fällt. —
Nimmt Neander, der grosse Kirchenhistoriker, mit seiner
Fektoraltheologie („Pectus est, quod theologum facit"j,
welche die Gemüthsseite so sehr betont, eine mehr vermittelnde
Stellung ein, so treten uns in Dav. Friedr. Strauss
und Bruno Bauer radikale Denker, mit theilweise negativer
Kritik entgegen. In Schelling und Kegel hatte auch die
deutsche Religionsphilosophie ihren grossartigen Ab-
schluss gefunden; sie hatten, jeder auf seine Weise, gelehrt,
dass in der Weltentwickelung Gott zur objektiven Darstellung
gelangt, und Phil. Marheinecke, der Begründer der
neueren spekulativen Theologie (f 1846), hatte auf den
Grundlagen eben dieser Philosophie ein geistvolles System
der Dogmatik auferbaut. Da sollten Strauss, Bauer und,
last not least, Feuerbach diesen stolzen Bau erschüttern.
1835 erschien „Das Leben Jesu kritisch bearbeitet" von
David Fr. Strauss und erregte geradezu ungeheures Aufsehen.
Strauss (1808—1874), ein Schüler HegeH, hatte darin Ge-
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