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Dankmar: Geistige und soziale Strömungen etc. 335
danken dieses energisch fortgeführt und eine äusserst scharfsinnige
kritische Untersuchung der Evangeliengeschichte
gegeben. Er unternahm es, als Erster, ausgestattet mit
grosser wissenschaftlicher Kenntniss, nachzuweisen, dass die
evangelischen Berichte keinen Anspruch darauf erheben
können, geschichtliche Berichte im streng historischen Sinne
des Wortes zu sein. „Ich blickte mich in den heiligen Erzählungen
der alten Religionen um, die heute Niemand mehr
weder mit Herodot übernatürlich fasst, noch mit Euhemerus
natürlich erklärt: sondern man fasst sie als Sagen, die sich
aus der frommen Phantasie der Völker und ihrer Dichter
heraus ohne Arg und Absicht so gebildet haben. Als Erzeugnisse
der absichtslos dichtenden urchristlichen
Sage betrachte ich die evangelischen Wundergeschichten
. u Das ist der springende Punkt der Strauss1 sehen
Auffassung: wie Herder uns gezeigt, wie das Unvergängliche
in der Poesie nicht bewusst aus der Seele des Einzelindividuums
, sondern bewusstlos aus der Seele des Volkes quillt,
so hat Strauss das Prinzip des Mythus aufgestellt, wonach
der Geist .des Urchristenthums unbewusst, nach den alt-
testamentlichen Weissagungen und Vorbildern, die evangelische
Geschichte zusammenstellte. Nicht die Schöpfung
von Betrügern: Mythen sind „heilige Sagen, geschichtsartige
Einkleidungen urchristlicher Ideen, gebildet in der absichtslos
dichtenden Sage." Wie unser Novalis dies gesagt hat:
die Geschichte Christi ist so gewiss Gedicht, als Geschichte.
Strauss, dessen Natur alles Mystische völlig fremd war,*)
verwarf vollkommen die widernatürlich - sinnlose Auslegung
der Wunder, wie sie der glatte Rationalismus eines E. G. Paulus,
Bahr dtj Venturini u. s. f. geboten hatte. „Wer die Pfaffen
aus der Kirche schaffen will, der muss erst das Wunder
aus der Religion schaffen," meint er. Mit Recht findet er
es unlogisch, dass der Christ zwar alle Wunder der jüdischen
*) Ebenso wenig hat Strauss jemals das eigentliche Wesen der
Eeligion erfasst; ihm ist stets die Religion identisch mit dem
Kultus der Kirchen, mit Beten, Kreuzescmageu, Messe lesen u. s. f.
Uebrigens war Strauss sehr befreundet mit unserm Jmtinus Kerner
und man lese einmal nach, was er über die „Seherin von Prevorst*
sagt: „ . . . Wir konnten nicht zweifeln, hier wirklich eine
Seherin, theilhaftig des Verkehrs mit einer höheren Welt
vor uns zu haben. Bald machte Kerner Anstalt, mich mit ihr in
magnetischen Eapport zu setzen: ich erinnere mich keines gleichen
Augenblicks in meinem Leben." („Gesammelte Schriften", ed. Ed.
Zeller, I. Bd. IV, 129.) Am meisten von allen Kerner'&chen Schriften
schätzt Strauss seine „Geschichte zweier Somnambulen." Derselbe
Strauss ging aber, als Vierundsechzigjähriger, mit seinem Buch „Der
alte und der neue Glaube" (1872), klingenden Spieles ins Lager des
flachsten Materialismus k la Büchner-Vogt über.
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