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350 Psychische Studien. XXXI. Jabrg. 6. Heft. (Juni 1904.)
hatte, so heftige Darmblutungen ein, dass wir an
seiner Rettung schier verzweifelten. Unsere Inspiratoren
waren jedoch anderer Meinung, und ich schrieb, ungläubig
und widerstrebend, einige Gedichte, die auf das Bestimm,
teste die Erhaltung des uns theuren Lebens prophezeiten.
Allerdings hatten wir den Arzt rufen lassen, aber er schien
unsere Befürchtung zu theilen und erklärte, einen solchen
Fall noch nicht erlebt zu haben. Er verschrieb Eisen -
chlorid und Gelatine, und dieser nicht gerade herrliche
Trank war statt süsser Milch das erste Nass, das die Lippen
des mit seinem dünnen Stimmchen erbärmlich wimmernden
Erdenpilgers benetzte. Die Inspiratoren behielten Recht,
denn das Knäblein gesundete sehr rasch trotz seines geradezu
unheimlichen Blutverlustes. Die das Kind betreuende
Wärterin, die ihren Pflegebefohlenen ebenfalls als
verloren betrachtete, war über das gänzliche Aufhören der
Blutungen mit einem Male sehr erstaunt. In einem
von mir geschriebenen Gedichte wurde uns gesagt, dass des
„Meisters Helfer" das Knäblein gerettet habe, doch
wird der Zweifel dem Eisenehlorid und der Gelatine voraussichtlich
grössere Wunderkraft zutrauen, als dem unbekannten
und ungenannten Gehilfen Christi Erwähnen
will ich noch, dass am 29. März 1903 unserm Knäblein
in einem von mir geschriebenen Gedichte Segenswünsche
gespendet wurden. —
Im Laufe des Vorjahres entstanden sehr viele Gedichte
und ein Trauerspiel in vier Aufzügen und einem
Vorspiel, das den Titel trägt: „Na<!ina Woroneff*. Es ist
in Prosa geschrieben und sein Entstehen darf mit Recht
merkwürdig genannt werden. Ich hatte nämlich bereits in
München im Jahre 1899 ein vieraktiges Trauerspiel, nicht unter
Inspiration, wenigstens nicht unter bewusster Eingebung, ver-
fasst, dem dieselbe Fabel zu Grunde liegt. Im Sommer
des vorigen Jahres schrieb ich, von Freiherrn von Erhardt
hiezu veranlasst, zu diesem Trauerspiel ohne bewusste In*
spiration, aber doch inspirirt wie ich später erfuhr, ein Vorspiel
und am 9. September begann ich, angeblich von dem
Geiste Shakespeare'* inspirirt, die Tragödie neu zu dichten.
An dieser Dichtung, die, trotz wochenlanger Unterbrechung
der Arbeit, bereits am 1. November vollendet war,
vermochte ich in einer jeden Zweifel ausschliessenden Weise
zu ermessen, dass eine fremde Geisteskraft mich beeinflusste;
konnte ich doch die Neugestaltung meines ersten Entwurfes
von Akt zu Akt, bewundernd und begeistert, verfolgen!
Beide Dichtungen werden der berufenen Kritik seinerzeit
Gelegenheit geben, den Abstand zu beurtheilen, der
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