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354 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 6. Heft (Juni 1904.)
jenes ^Durch Kampf zum Sieg4'*) fassen, in welchem
sich das ganze Menschenleben in seiner würdigsten Gestaltung
spiegelt. Nicht etwa eitel Jubel und Freude tönt
uns aus solchen Klängen entgegen; ihr tiefer Ernst mahnt an
Müh* und Leid des Lebens, und doch wirkt der Gesammt-
eindruck ausgleichend und schmerzstillend. Nicht bloss das
kleinliche Gezanke und Gekitzel des Alltagslebens, auch
der kindische Jubel des Augenblicks, der uns nur zu oft
den ernsten Untergrund des Daseins vertuscht, verstummt
vor der Majestät einer heiligen Musik; es ist, als lagerten
sich dem Schäkernden und Lachenden die Schatten des
Schicksals vor die Seele, und doch bemächtigt sich seiner
nicht Traurigkeit, nein es wird ihm im tiefsten Herzensgrunde
so wohl, so tröstlich und friedfertig zu Muthe! Und
umgekehrt, nagt etwa Gram an seinem Herzen, so sind es
nicht die Klänge und die sinnenkitzelnden Bilder einer
lustigen Tanzmusik, die er vielmehr in seiner Seelentrauer
unerträglich findet, es sind wiederum jene hehren, erhabenen
und friedlichen Akkorde, die in sanftester Form seinen
Schmerz lindern.
Dass ferner auch feindliche Regungen der Menschenseele
durch den Zauber einer erhabenen Musik gelöst, ja
gelegentlich in ihr Gegentheil übergeführt zu werden vermögen
, steht ausser Zweifel. Man weiss ja schon aus
Stradellds in der gleichnamigen Oper Flotonfs vorgeführter
Lebensgeschichte, wie unerwartet die ihm in der Kirche
auflauernden Meuchelmörder durch die Klänge seines eigenen
Oratoriums erschüttert und umgestimmt wurden. Kurz,
der Hauptzweck, dem die Schöpfer solcher Kunstwerke nachstrebten
, — die siegreiche Erhebung des Menschen über
die gegebenen Schranken seines irdischen Daseins, die
wortlose Mahnung an eine hoch über menschlicher Vernunft
stehende, lebendige Urkraft des Weltalls, aus deren Schooss
die Ausgleichung jeglichen Uebels entsprossen soll —, diesen
Zweck haben viele von ihnen in wahrhaft grossartiger Weise
erreicht; denn ihre Werke entfalten nach wie vor eine geheimnissvolle
erbauende Kraft, die sich dem Höchsten, was
das menschliche Wort nur immer hervorbrachte, an die
Seite stellt Ist dem aber so, so muss oder wenigstens
sollte diese lange Reihe erhabener Kunstgebilde vom Standpunkte
der Materialisten eigentlich für kindisch und unsinnig
, kurz für ein Ueberlebtes und Abgethanes gelten. Da
*) Wobei natürlich beide Worte entfernt nicht in dem groben,
menschenunwürdigen Sinne, dem eines Kämpfens und Siegens mit
Gewaltmitteln, etwa auf dem Schlachtfelde, zu verstehen smdl
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