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356 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1904.)
schon oben gezeigt wurde, eine Ausgleichung, die der In-
dividualität keine Rechnung trägt, — nicht viel mehr als
keine; ein System aber, dessen ,,Sein" zugleich eine unendlich
lange Kette von ungesühntem Unrecht und Uebel bedeutet
, kann keinen Anspruch auf eine Verherrlichung
durch so wunderbare Dinge, wie es gothische Kirchen sind,
machen. Im grossen Ganzen schliesst also der konsequent
durchgeführte Materialismus gerade das erhabenste Gebiet
der menschlichen Kunst unwillkürlich und unzweideutig
aus; und thut er dies nicht mit ausdrücklichen Worten,
oder vertuscht und umgeht er die Frage, so ist er eben
nicht folgerichtig.
Es wird in materialistischen Schriften des öfteren von
einer „doppelten Buchführung" geredet, wodurch man es
sich zu erklären sucht, wie so der oder der religiös angelegte
Naturforscher seinem Glauben treu zu bleiben vermag
. In obigem Sinne aber wäre dieser Ausdruck auf die
Materialisten selber anzuwenden. Wenn Ilaeckel z. ß. noch
Kirchen und Dome für ein monistisches Weltgespenst beibehalten
will, von dem man bei aller Mühe nicht herauskriegen
kann, ob es ein blindes Substanz-Kraft-Ding oder ein
Wesen mit immanentem, höhere Zwecke setzendem Willen
ist, so beweist schön dieses Hin- und Herschwanken, diese
Zweideutigkeit und Verschwommenheit, wie wenig Ernst
man solchen phrasenhaften Auslassungen entgegen zu bringen
hat. Auch ist das, was er als „monistische
Kunst* zu verherrlichen meint, also z. ß. die Abbildung
verschiedener Tiefseebewohner, deren „eigenartige Schönheit
alle von der menschlichen Phantasie geschaffene Kunstwerke
weitaus übertrifft" (!) —, dermaassen tief unter Allem,
was uns die wahrhafte Kunst von den doch unendlich höher
stehenden Regungen des Menschengeistes wiedergiebt,
dass sicherlich kein tiefergehendes Fühlen und Denken sich
bei dergleichen Vorschlägen aufzuhalten oder dieselben überhaupt
ernst zu nehmen vermögen wird.
DÜhringh Vorschläge sind auch auf diesem Gebiet entschieden
sinnreicher, aber immerhin noch lange nicht stichhaltig
. Da „das Fuppenwerk der alten Griechen, so wie die
meisten religiösen Bilder der Italiener nicht das Letzte und
Höchste in der Kunst gelten bleiben" werde,*) so meint er, die
deutsche Kunst hätte „vor Allem den idealen Deutschen
nach allen Richtungen seines Wesens durch schöpferische
Vertiefung in die Bestandteile seines Charakters zur plasti-
*) „ Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres / 1897,
S. 210 u. ff.
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