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360 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1904.)
Beispiele solcher Kunstwerke seien nur Leoparät* und auch
das Meiste von Heine1* Dichtungen angeführt. Dass Richard
Wagner mit seinem imposanten Musiklärm im Gegensatz
zu einem Mozart und Beethoven ebenfalls zum grössten Tbeil
hierher gehört, werden unbefangene, unparteiische, mit
einem feineren musikalischen Ohr begabte Zuhörer kaum
in Abrede stellen können. Schliesslich darf auch jene bekannte
Thatsache nicht übergangen werden, dass sich die
materialistisch-pessimistische Kunst nur allzuleicht herbei-
lässt, ihre Darstellungen, um sensationelle Effekte zu erzielen
, unwürdigen, ja unsittlichen Objekten zu widmen.
Was ist z. B. die sogenannte realistische, besonders von
den Franzosen kultivirte Komanlitteratur unserer Tage,
was sind die jüngsten Machwerke der „naturalistischen"
Maler, wenn man sie auf ihren ethischen Gehalt prüft?
Das Schwülstige, das Schreckliche, das Unnatürliche, das
Unschickliche, dies sind heutzutage die beliebtesten Motive.
Kurz, wie man sich immer stellen möge, der negativisti-
schen Kunst fehlen von Hause aus die Quellen der hohen
idealen Begeisterung, weshalb ihr ganzes Trachten und
Treiben den irdischen Staub nicht abzuschütteln vermag
und ihre Werke im Vergleich zu denen der klassischen
Kunst ein Minderwerthiges bleiben müssen.
Mit besagtem Ergebniss ist jedoch die Sache noch
nicht abgethan. Unbeantwortet bleibt immer noch die
Frage, mit welchem Rechte materialistische
Schriftstell er, überhaupt materialistisch
Denkende jene grossen dichterischen, musikalischen
und sonstigen Kunstwerke benützen
und zu zitiren pflegen, die zwar unmittelbar
wenig oder nichts mit religiösen Gegenständen zu
thun haben, jedoch die Geistesarbeit religiös angelegter
Künstler und Denker darstellen. Eine Weltanschauung
ist nicht etwas von aussen an das Fühlen und Denken Angeflicktes
; wie die des Temperaments, so gehört ihre Wirkung
zu denjenigen, welche das Ganze des geistigen
Fassens und Thuns durchdringen und beeinflussen. Wenn
wir also sehen, dass wahrhaft grosse und einen segensreichen
Einfluss ausübende Geister von jeher dem Idealismus
zuneigten, dass selbst Diejenigen von ihnen, die sich
in religiösen Fragen zurückhaltend zeigten, wenigstens nicht
daran dachten, die Religion als solche zu bekämpfen
und bei den Volksmassen zu diskredi-
tiren, so müssen sich doch ihre allgemeinen Ueberzeugungen
und Ideale offenbar auf Schritt und Tritt beim Zustandekommen
ihrer Werke mitbetheiligt und darin wiederge-
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