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364 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 6. Heft. ^Juni 1904.)
Semasiologie oder Bedeutungslehre26) zeigen, dass an ein
Wort successive verschiedene „ Bedeutungen" geknüpft waren.
Dieses sind aber die „Begriffe", die sieh vermittelst
oder auseinander gebildet haben.27)
Der ältere „Begriff" — aber auch die älteren Begriffe —
(es konnten auch mehrere sein) vermittelst, bez. aus dem
oder denen der neue „Begriff" sich zusammengesetzt, bez.
von dem er sich losgelöst hatte, waren stets durch
Koordinations Systeme bedingt2*), gehörten also
zu der Nr. I behandelten Kategorie. Indem ich nun unter
diesem Gesichtspunkte (diesen Voraussetzungen) die Geschichte
solcher sprachlicher vulgärer „ Begriffe" untersuchte,
deren Inhalte vorwiegend Gefühlswerthe bilden (also „abstrakter
" „Begriffe"), befolgte ich eine vergleichende
Methode: ich suchte die Geschichte der Bezeichnungen
m) Sie sucht die Resultate der Lexikographie zu systematisiren,
hat aber neben derselben keine wissenschaftliche Bedeutung, da eine
Theorie der „Bedeutungen*4 nur eine Theorie der „Begriffe'4 bieten
kann.
27) Yergl. Wnndt, Völkerspychologie I. 2, p. 431: „Der reguläre
Bedeutungswandel bildet <lie Geschichte eines ßegrifies.*
2C) Hierher gehört die bekannte Thatsache, das? man alles Neue,
Un Dekannte aus einem oder vermittelet eines älteren Bekannten zu
„begreifen" sucht; diese älteren, geläufigen Koordinationssysteme
bilden die „Apperzeptionsmassen", Zie/ien's „Reduktions Vorstellungen",
Avenarius" Multiponibeln". Sie sind unsere Macht, denn sie geben
uns die Möglichkeit, aus einem gegebenen Gliede ein Ganzes
in Gedanken zu ergänzen (z. B. aus dem Geräusche auf der Strasse
ergänzen wir in unserem Zimmer „einen Wagen" „ein Pferd" oder
„einen Menschen"; aus dem gehörten oder gesehenen Worte — „den
Gedanken, Begriff"; sie geben uns auch die Macht zu „prophezeien",
.,voraus-zusehen", hierher gehören die „Wunder der Technik", die
Prophezeiungen des Astronomen und Meteorologen, aber auch die
Kunst des Arztes und des Menschenkenners oder Pädagogen, der
die Gedanken und Handlungen seinem Schülers voraubsieht. Sie
sind aber auch die Fesseln unseres Denkens, indem wir vermittelst
ihrer denken und „begreifen" müssen; dank ihnen „be-greifen"
wir in dem uns umgebenden Neuen immer ein Mehr oder ein
Weniger, das erst eliminirt oder ergänzt werden muss; unsere „Ergänzungen
" sind daher oft „falsch", indem sich aus einem gegebenen
Gliede in unserem Gehirn-„Denken" ein anderes Ganzes ergänzt, als
das that- sächlich vorliegende; ein grossartiges Beispiel dafür ist
der Fetischismus (bez. „Animismus") und die mythologischen „Anschauungen
", aber auch die Fetische, die in unseren wissenschaftlichen
„Begriffen" noch immer spuken, z. B. die „Kräfte" uiid „Vermögen
". [„Kraft" heisst — nach C. Dillmann, „Die Mathematik
die Fackelträgerin einer neuen Zeit" — Stuttgart 1889, p. 150 —
lediglich eine Bewegung als unmittelbar wirkende Ursache einer
anderen Bewegung auigefasst, so dass sich also zu den zwei „apriorischen
Anschauungsformen" von Baum und Zeit, wie Kant sie
nennt, als dritte die Anschauungsform der Kraft gesellt. — Bed.l
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