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Kurze Notizen.
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auf die chemischen und physiologischen Vorgänge wie folgt:
„Die chemische Verwandtschaft wird durch die tiefen Kältegrade
, wie sie die flüssige Luft liefert, ganz enorm herabgemindert
; sogar Reaktionen und Umsetzungen, die bei
gewöhnlicher Temperatur momentan verlaufen und zu den
heftigsten gehören, vollziehen sich bei —191 Grad so langsam
, dass wir sie kaum messen können, bezw. sind praktisch
gleich Null zu setzen. In gleicher Weise sinkt die photographische
Wirkung des Lichtes bei —191 Grad auf einen
Bruchtheil derjenigen herab, die bei der Zimmertemperatur
beobachtet wird. Die physiologischen Wirkungen jener
niedrigen Temperaturen sind ebenfalls ganz überraschend;
es hat sich ergeben, dass für niedere Lebensformen mässig
hohe Temperaturen (bis zu + 50 bis 60°) viel gefährlicher
sind, als die extrem niedrigsten Kältegrade! So konnten
typische Bakterien (Mikroorganismen) während 20 Stunden,
ja sogar 6 Monate hindurch in flüssiger Luft gehalten
werden, ohne dass ihre Vitalität merklich beeinflusst worden
wäre. Samen verschiedener Pflanzen wurden über 100
Stunden lang in flüssiger Luft gehalten: — sie erholten sich
vollkommen in der Wärme. Als man Gerste, Erbsen, Senfsamen
sogar noch tiefer abkühlte, d. h. während 6 Stunden
in flüssigem Wasserstoff (bei — 252° C.) hielt, ergaben sie
bei der Aussaat ein normales Keimungsverhältniss! Unwillkürlich
drängen sich hierbei Fragen biologischer Natur
auf: wenn bei diesen tiefen Temperaturen die chemischen
Vorgänge gleichsam ausgelöst werden, die Materie also
reaktionslos oder todt ist, wenn andererseits der Lebens-
prozess jener Mikroorganismen, Samen, Zellen ausschliesslich
an das Vorhandensein von chemischen Vorgängen gebunden
ist, in welchem Zustand befinden sich dann die
Bakterien usw. bei — 190° bis — 252°? Sind nun einmal
die den Lebensprozess bedingenden chemischen Reaktionen
durch die Todesstarre der Materie unterbrochen worden,
dann kann keine Wiederkehr der Zelle zum früheren Zustande
stattfinden, — und trotzdem leidet die Vitalität
nicht merklich! Sollte noch ein Zwischenzustand
, ein Bindeglied zwischen Leben und Tod existiren?
Werden wir vielleicht den Faktoren des Lebens beim Tode
der Materie nachforschen? . . . Die Luft, dieses Nichts,
dieses Unsichtbare, ist unter unseren Augen ein Etwas geworden
, das in greifbarer Gestalt den wichtigsten Faktoren
im Haushalt des Menschen beigesellt werden muss. War
es einst richtig, dass man „von der Luft nicht leben" könne,
so ist's heute noch richtiger, dass man ohne Luft nicht
leben kann. Der Sprachgebrauch hat der Luft noch vieles
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