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Litteratitrberioht.
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dem Ruf: „Aerzte cavete Interessenkämpfe!* als vernünftiger Betrachter
der Dinge die Mahnung zur Erneuerung ihrer gesammten
beruflichen Anschauungs- und Denkweise entgegen, indem die Medizin
, wie jede Wissenschaft, sich eine Kritik gefallen lassen muss,
die jeder entwickelte Menschenverstand im Zusammenhang mit den
sich ändernden Lebenslagen vornehmen, zum mindesten aber erfassen
kann. Der heisse Wunsch der Genesung, das Lebensglück der Erkrankten
muss der Mittelpunkt der Betrachtung bleiben, während
heute der Arzt als Gelehrter und als Techniker, durch die Alltäglichkeit
abgestumpft, zu urtheilen pflegt, wobei er vergisst, dass die Heilkunde
doch nur der praktisch belehrenden Erfahrung ihren erträglichen Werth
verdankt. Die Formeln der heutigen Medizin sind durchaus technische;
kaum ein einziges ihrer zahlreichen Probleme ist auf allgemein
menschliches Verständniss eingerichtet oder auch sprachlich zugeschnitten
. Nur die zielbewusste Forschung, den Blick stetig auf
hohe Lebenszwecke, auf Religion — als die Wiederanknüpfung
aller Lebensprobleme an den tiefsten Wesensgrund — gerichtet,
verbürgt wahre Erhöhung und Konzentration des von der Wissenschaft
— als der Sonderung und Verknüpfung der Probleme auf
Grund von Wahrnehmungen und Denkgesetzen — gewonnenen
Lichtes für die Brennpunkte des Menschendaseins. Die Religion
des Gedankens heisst aber Einfalt; ohne sie, die in der Wissenschaft
recht eigentlich zu Hause sein sollte, stellt das Streben des Gelehrten
nur eine Unterart des Forschens mit den Merkmalen der Inferiorität
dar, so sehr sich auch das Uebermenschenthum in der Wissenschaft
mit seinen lediglich einer eitlen Selbstbespiegelung des Verstandes
dienenden Erfolgen brüsten mag. Die Krankheitsursachen sind in
den meisten Fällen seelischer Natur: Fehler der Lebensweise,
schlechte Gewohnheiten, Neigungen, Leidenschaften, Uebermaass
in Essen und Trinken u. dergl. Der Arzt als Heiler richte daher
seinen Blick in erster Linie auf den Brennpunkt der ganzen Thera-
peutik auf den bewussten oder unbewussten Antheil der Lebensführung
des Erkrankten; die Diagnose ist dann nur eine Erkenntniss
zum Zweck der Hilfeleistung. Der Uhrmacher, der Maler müssen
ihre praktischen Probleme genau so bewältigen; sie müssen einfach
wissen, wo, wann und wie sie mit ihrer Thätigkeit einzusetzen
haben, Uebung und Fertigkeit in ihrer Kunst besitzen, ohne tiefe
unddunkle Probleme der Statik, der Dynamik oder der Farbenchemie
und der Optik in ihrem Geiste theoretisch erwägen zu können.
Nur wenn sich der Arzt im guten Sinne zugleich Laie weiss und
fühlt, behält er offene Sinne für alle Vorkommnisse des Lebens
und hütet sich vor rohen Eingriffen durch Ausschneiden und Abnehmen
erkrankter Theile des Organismus anstatt diesen vor allem
gesund zu machen und damit die Wurzel der Krankheit zu
beseitigen*)
*) Schon der alte Paracelsits sagt mit Recht, das Licht der Natur
zeige dem kranken Hund an, dass sein Schlecken seine Wunde heilt und
so berühmt auch er sich „derselben Künste ein Korrektor und Examinator'4
zu sein. Jede Wiedergeburt muss auf Religion zurückgehen; aber so fern,
wie echte Religion und Theologie, stehen sich auch lebensvolle, unmittelbar
hilfbereite Auffassung der Krankheiten und gelehrtes Arztthum. Ein Glück
für die Menschheit, dass die Aerzte selbst noch ganze Menschen sind; ihre
Wissenschaft konnte sie wohl ausmergeln und verwirren, aber der Wille
blieb bei den meisten gut und die vielfach irregeleitete Treue in der Beobachtung
und im Wirken bewunderungswerth. — Sehr lehrreich sind die
Ausführungen des Verf. über den mit dem Dasein von Organisationen innig
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