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398 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1904.)
ihren Paradoxien geniale Lehre begreiflich; auf den Boden
des naiven Materialismus, ins reale Leben hinübergenommen,,
wird sie zur hohlen Phrase.
Bevor wir einen Blick werfen auf die Geschichte der
Historiographie unseres Vaterlands in jenem Zeitabschnitt,
um uns sodann dem „jungen Deutschland" zuzuwenden, erübrigt
noch die Betrachtung zweier in ihrer Art grosser
Männer: eines Dichters und eines Philosophen, die beide
Meister der Form waren. — Friedrich Rückert (1788—1866)
steht als Prosodiker, Metriker, Reim- und Sprachkünstler
in der deutschen Litteratur an erster Stelle. Baron
Joseph von Hammer-Purgstall, der grosse Orientalist, war es>
welcher ihn (1818 in Wien) in die persische, arabische und
türkische Sprache und Litteratur einführte, und 1826 wurde
Rückert, auf Wunsch von König Ludwig L von Bayern,
Professor der orientalischen Sprachen an die Universität
Erlangen berufen; nach des Königs Friedrich Wilhelm IV.
Thronbesteigung kam er, mit dem Titel eines geheimen
Hegierungsrathes, als Professor nach Berlin, das er aber,
wenige Tage vor Ausbruch der 48er Revolution, enttäuscht
wieder verliess. — Rückert bat Herder1* Gedanken von der
universellen Natur der deutschen Dichtung zur Wahrheit
gemacht; seine Dichtkunst umfasst alle Zonen und Nationen
der Erde: den skandinavischen Norden, Persien, Arabien,
Hellas, Indien — selbst China —, die ganze Völkerfamilie t
Freilich verfällt er, besonders im Alter, gerne in Künsteleien
und oft ganz kindische Wortspielereien; aber er hat
viel Bleibendes geschaffen, voll gründlicher Welt- und
Lebenserfahrung, voll tiefen Gefühls, voll Erhabenheit und
Bilderreichthum» Rückert ist der Dichter der reinen, keuschen
, hohen Minne; die fünf Sträusse seines „Liebesfrüh-
lings", wer kennt sie nicht? Sie gehören zu den Lieblingswerken
der Nation. Wie singt der Dichter?
„Es reut mich jeder Liedeston,
Der aufs verworrene Getriebe
Der Zeit sich wandt', und nicht auf Liebe.
Die Liebe ist der Dichtung Stern,
Die Liebe ist des Lebens Kern;
Und wer die Lieb' hat ausgesungen,
Der hat die Ewigkeit errungen."
Dabei ist er aber doch Gedankenlyriker; er hat die orientalischen
Formen des Grhasels und Makamens in
unsere Poesie eingeführt; er hat vor Allem (nach Schiller)
die Didaktik auf die höchste Stufe der Vollendung ge-
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