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Dankmar: Geistige und soziale Strömungen etc. 399
hoben.*) Die tiefste, rein geistige Kunst, bei welcher der
Gedanke im Gefühl aufgeht, ist in Rücker fs Didaxis vor-
handen. „Erst durch Schiller und, nachdem sie am Gesundbrunnen
des heiligen Ganges getrunken, durch Rückert, hat
sich die didaktische Poesie die Stellung erobert, die sie
jetzt einnimmt und unter der ihr der letztgenannte Dichter
in der „Weisheit des Brahmanen" em unvergängliches
Denkmal gesetzt hat", sagt der Rückertbiograph Hofrath
Prof* Carl Beyer.**) Dieses für jeden Theosophen
hochwichtige grosse Lehrgedicht ist, neben seinem
„Liebesfrühling", des Dichters Meisterstück; es besteht aus
2800 kleineren Lehrgedichten, welche durch die Einheit des
Geistes und der Form zu Einem verbunden sind; es um-
fasst alle Verhältnisse von Welt, Menschenleben, Staat,
Gesellschaft, Religion, spricht über Gott, Unsterblichkeit
und Offenbarung. Wie der Dichter sein Werk gelesen und
aufgefasst haben will, möge er selbst sagen:
Ich gebe dir, mein Sohn, das mögest du mir danken,
Gedanken selber nicht, nur Keime von Gedanken.
*
Nicht mehr zu denken sind Gedanken, schon gedacht'
Von Blüthen wird ja ferner kein Blüthenbaum gebracht.
Doch ein Gedankenkeim, wohl im Gemüth behalten,
Wird sich zu eigener Gedankenblüth' entfalten.
(„Weisheit des Brahm." II, 31.)
Rückert ist Pantheist und hat der wehmuthsvollen Stimmung
über den Untergang des Einzelindividuums, aber auch
dem belehrenden Tröste, dass das Ganze, wenn auch in
anderer Form bleibt, in seiner „Sterbenden Blume" ergreifende
Worte verliehen. Geradezu unaussprechlich schön
sind Rückerf8 „ Kindertotenliederdie wir aus seinem
Nachlasse (1872) erhalten haben. Wahre Perlen schlichter
Poesie! Durch den Tod zweier heissgeliebter Kinder, die
ihm (1833 und 1834) rasch hinweggerafft wurden, ward
der Dichter dazu inspirirt. Nicht bei der entgotteten Natur,
nicht beim Pantheismus, dem frostkalten, nein, beim lebendigen
Gott, von dem er in seinem Sonett sagt: „Gott ist
*) Das Ghasel, eine Verlängerung des persischen Vierzeilers
(Rubaj) wurde 1821 von Rückert in die deutsche Literatur eingeführt
. 1822 erschien die erzählende Epopöe voll fesselnden Humors:
„Makamen des Hariri".
**) C. Beyer: „Deutsche Poetik. Theoretisch praktisches Hand*
buch der deutschen Dichtkunst." (1883) IL Bd. I, § 14 und III, § 99.
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