http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0416
Klinckowstroem: Zar Graphologie.
407
dieselbe von einer Person männlichen oder weiblichen Geschlechts
herrühre. Hat die Schrift ein Geschlecht? Es wäre
schon viel, in diesen speziellen Punkt Licht zu bringen.
Wenn man zu einem positiven Resultate käme, so würde
das in hohem Maasse für die Graphologie sprechen. Prof.
. Binet hat seine Untersuchungen bekanntgegeben.*) Seine
Ergebnisse scheinen uns zu Gunsten der Graphologie ausgefallen
zu sein, wenn auch vielleicht nicht in dem Maasse,
dass man den Erfolg der Graphologie zuschreiben kann.
Wir wollen einen kurzen Ueberblick über seine Versuche
zur Bestimmung des Geschlechtes aus der Schrift geben.
Prof. Binet hat sich zu diesem Zwecke einfache Adressen
geben lassen, die von Personen beiderlei Geschlechts geschrieben
waren, und nicht ganze Briefe, deren Jnhalt das Geschlecht
des Schreibers hätte verrathen können. Er hat alle Vor-
sichtsmaassregeln getroffen, um eine solche Möglichkeit aus-
zuschliessen. So hat er 180 adressirte Couverts gesammelt
und diese gleichzeitig Graphologen von Fach wie anderen
Personen zur Prüfucg vorgelegt. 89 waren von Männern,
91 von Frauen geschrieben. Die von der Wahl getroffenen
Graphologen waren CrSpieux-Jamin und EM; die anderen
Leute, die gleichfalls ihre begründete Ansicht aussprechen
sollten, waren jeden Alters und jeder Profession. Die Graphologen
nahmen bei dörr Beurtheilung natürlich ihre auf
langer Erfahrung beruhenden Spezialkenntnisse zu Hilfe,
während die anderen ihr Laienurtheil ohne schwerwiegende
Begründung, mehr nach Gefühl und Eindruck, abgaben.
Bevor Crepieux-Jamin an die Prüfung des Materials heranging
, erklärte er Herrn Binet in zuvorkommendster Weise
die hauptsächlichsten Zeichen, anf die er sich bei der Entscheidung
stütze. Seine Ausführungen dünken uns wichtig
genug, an dieser Stelle wiedergegeben zu werden.
Bei der Frau hat nach Crepieux-Jamin das Schriftbild
ein ungewandtes, oft ungraziöses und unverbundenes Aussehen
; es weist zuweilen schiefe, langgestreckte, oder auch
auffallende und kompiizirte Buchstabenformen auf« Die
übermässige Länge einzelner Minuskeln, vorzüglich des s, des
r und des Schaftes beim p, findet sich vielfach in der weiblichen
Handschrift, sehr selten in der männlichen. Dasselbe
gilt von den langen Endbuchstaben. Für den Mann sind
Sauberkeit, Festigkeit, Sicherheit, Schlichtheit und Schmucklosigkeit
der Schriftformen charakteristisch. Die Einfachheit
, ein graphologisches Zeichen für geistige Regsamkeit,
findet sich in der Schrift des Mannes weit häufiger als in
*) In einer Studie im Oktoberheft 1903 der, Bevue.*
«
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1904/0416