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410 Psychische Studien. XXXI. Jahrg. 7. Heft, (Juli 1904.)
Personen miteinander entstanden. Aus der Thatsache. dass
bei einer allerdings sehr grossen Anzahl von Menschen eine
bestimmte Eigenschaft in der Schrift durch gewisse Zeichen
übereinstimmend charakterisirt war, schloss man, dass es
immer so sei. So wurde ganz allmählich, Stein für Stein,
mit Hilfe eines riesigen Materials das Gebäude des graphologischen
Systems errichtet, wie es jetzt scheinbar fertig vor
uns steht. Aber muss sich denn der Charakter, der nach
diesem System aus der Schrift herausgelesen werden kann,
unter allen Umstanden mit dem des Schreibers decken?
Ich sage „nein!" Wenn das Material, das zum Ausbau des
graphologischen Lehrgebäudes verwandt wurde, auch noch so
ungeheuer sein mag, es kann sich immer einmal ein Geizhals
finden, in dessen Handschrift kein einziges „Zeichen*
für seinen Fehler, den Geiz, zu entdecken ist. Und dieser
Fall kann immer eintreten, wenn auch die Ausarbeitung
der Graphologie über deren augenblicklichen Zustand weit
hinausgeschritten sein wird.
Weil nun das Vergleichsmaterial, auf dem das graphologische
System fusst, ein immenses ist, so ist es ziemlich
wahrscheinlich, dass der mittelst desselben aus der Schrift
erschlossene Charakter mit dem des Schreibers in den allgemeinen
Umrissen übereinstimmt. Aber in den feineren
Schattirungen scheint es mir doch noch sehr zu hapern.
Dieser Fehler wird sich mit dem weiteren Anwachsen des
Materials wahrscheinlich vermindern, ganz verschwinden
wird er aber nie.
So steht es meiner Ansicht nach mit der Wissenschaft
„Graphologie", von deren Exaktheit „Edelweiss* z. B.
völlig überzeugt zu sein scheint *) Niemals darf das System
der Graphologie als beendet betrachtet werden; rastlos muss
von den Graphologen weiter — gebaut und — geforscht
werden.
Ob die Intuition die vorhandenen Lücken der Graphologie
auszufüllen vermag, das kann ich nicht entscheiden.
Jedenfalls glaube ich nicht an die Unfehlbarkeit derselben **)
*) Siehe meinen Artikel: „Der Fall Aub*, im Märzheft (S. 178 ff.)
der „ Psych. Studien*.
**) Es wäre sehr dankenswerth, wenn auch andere Sachverständige
auf Grund ihrer persönlichen Erfahrungen sich zu
dieser von dem Herrn Grafen angeregten Frage mit derselben, echt
wissenschaftlichen Gründlichkeit äussern wollten. — Eed.
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